Plötzlich stand mein Leben Kopf

Ein neues Selbstbewusstsein, neue Therapien und Perspektiven und ein Blog. Für Menschen mit Hämophilie und ihre Familien hat eine neue Zeit begonnen.

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Sabine ist Mutter eines Bluterkindes. Ihr Sohn hat Hämophilie A. Ihm fehlt der Gerinnungsfaktor 8, der bei inneren und äusseren Verletzungen die Blutung stoppt. Ohne den Gerinnungsfaktor wird die kleine Schürfung zum Drama, der Sturz mit dem «Trotti» zum Notfall. Aber selbst ohne Unfälle gehen durch viele kleine innere Blutungen die Gelenke kaputt. Es braucht viel Aufmerksamkeit, Medikamente und enormen Verletzungsschutz. Der Umgang mit Hämophilie ist bei Babys und Kleinkindern sehr aufwendig. Sabine spricht über diese Aufgabe und das, was ihr widerfahren ist. Sie tritt an die Öffentlichkeit. Im Blog von «Fokus Mensch», der Plattform für Hämophilie-Betroffene. Warum?

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Sabine

«Weil es wichtig ist, und weil ich allen Betroffenen und deren Umfeld Mut machen möchte. Ich erinnere mich noch ganz genau an den Moment, als wir bei unserem Kind mit der ­Diagnose konfrontiert wurden. Ich wusste nichts von Hämophilie oder Bluterkrankheit, wie die Erkrankung auf Deutsch heisst. Und als ich mehr erfuhr, stand mein Leben plötzlich Kopf. Ich fühlte mich hilflos. Man erzählte mir, dass ich ab dem ersten Lebensjahr prophylaktisch spritzen müsse. Mehrmals am Tag. Ich musste mich mit der neuen Situation auseinandersetzen und in vielen Dingen komplett umdenken.» Obwohl nur eines von drei Kindern unter Hämophilie leidet, änderte sich das Leben für Sabine und die ganze Familie schlagartig.

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Christian

Wer hilft, wenn man mit einer seltenen Erkrankung konfrontiert ist? Wer weiss überhaupt Bescheid? Die Ärzte und das medizinische Personal geben sich Mühe, doch erst in den Gesprächen mit anderen Betroffenen fühlte Sabine sich wirklich verstanden. Eindruck machte ihr ein 18-jähriger Patient, der dieselbe Diagnose und denselben Schweregrad wie ihr Sohn hat. «Ich nahm jedes Wort, jeden Ausdruck und jedes Lächeln von ihm intensiv wahr, saugte alle Informationen auf. Der junge Mann imponierte mir. Seine Mutter sprach mir am Ende der Gesprächsrunde Mut zu. Ihre Worte werde ich nie vergessen, denn sie helfen mir bis heute in schwierigen Momenten. Die Dame kam zu mir, schaute mich an und sagte ‹Ihr Sohn ist noch so klein …› – sie zeigte es mit ihren Händen – ‹und seine Probleme erscheinen gerade so gross …› – sie breitete ihre Arme aus. ‹Aber Ihr Sohn wird damit wachsen und gross werden, und die Probleme werden immer kleiner werden.› Die Arme schlossen sich wieder, und die Frau berührte mein Baby. Ein Lächeln war auf ihrem Gesicht. Sie hatte viel Mut und Erfahrung. Von da an wusste ich, dass der Weg zwar holprig und anders werden würde, aber dass wir es gemeinsam schaffen. Diesen Mut möchte ich gerne auch anderen Hämophilie-Betroffenen weitergeben.»

Christian will ebenfalls Mut machen. Und Hoffnung geben. Er ist bereits 56 Jahre alt und gehört zu jener Generation, die am Anfang noch ohne ein Medikament auskommen musste, weil es gar keines gab. «Die Ärzte haben mir immer Mut gemacht, dass es bald etwas geben würde, das mir helfen könne. Ich war neun Jahre alt und hatte wegen der vielen inneren Blutungen schon grosse Schäden an den Gelenken, als 1973 das erste Medikament auf den Markt kam, das den fehlenden Faktor 8 ersetzen konnte. Das war wie eine Erlösung. Es stillte meine heftigen Schmerzen und stoppte die Blutungen im Gelenk.»

Trotzdem liess sich Christian zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr seine defekten Sprunggelenke, die beiden Kniegelenke und ein Ellbogengelenk ersetzen. «Die Schmerzen waren zu gross und die Beweglichkeit mittlerweile sehr schlecht. Und als die Entwicklungen bei den künstlichen Gelenken gerade einen grossen Schub erfahren hatte, schöpfte ich Hoffnung und war voller Vertrauen. Mit meinen fünf künstlichen Gelenken lebe ich seither wunderbar. Auf jeden Fall viel besser als vorher. Nun möchte ich all jenen Patienten Mut machen, die wie ich erst spät in den Genuss von wirksamen Medikamenten gekommen und deren Gelenke deshalb schon irreparabel geschädigt sind. Mut, sich auch mit dem Thema Gelenkersatz zu befassen. Ich habe es nie bereut.»

Weitere Mutmacher gesucht

«Fokus Mensch» sucht für den Hämophilie-Blog Menschen, die über den Umgang mit der Erkrankung erzählen. Menschen, die selber betroffen sind und solche aus dem Umfeld von Patienten, die direkt miterleben, was es heisst, Bluter zu sein. Es können auch Personen aus dem Gesundheitswesen sein, die als Pflegefachfrau bzw. Pflegefachmann HF oder FH, als Fachangestellte Gesundheit FAGE, als Advanced Practice Nurse oder auch als Nurse Practitioner über ihre Patienten mit der Bluterkrankheit berichten. Gerne auch Ärztinnen und Ärzte. Sehr spannend wären Lehrpersonen, die einen Hämophilie-Schüler in ihrer Klasse unterrichten. Wenn sie alle über ihre Erlebnisse berichten, machen sie anderen Hämophilie-Betroffenen Mut. Nichts hilft besser, als die Erfahrungen von Leuten, die das eigene Schicksal in irgendeiner Form teilen.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 17.06.2021.

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