Das Märchen von der spontanen Sexualität

Guttmann Sex Aufmacher

In meiner Praxis fällt mir in den letzten Jahren zunehmend auf, dass viele Paare offenbar vom beruflichen Alltagsstress zu erschöpft sind, um noch Zeit für die Liebe zu finden. Dies betrifft nicht nur ältere Paare, nein, das sind insbesondere Paare mit und ohne Kinder, im besten Alter zwischen 35 und 45. Wie kommt es, dass den Leuten die Lust auf die Lust im Alltag abhanden gekommen ist?

Eine Studie aus England ergab, dass 35 Prozent aller befragten berufstätigen Frauen angeben, keine Lust auf Sex zu haben, weil ihr Alltag ihnen zu viel Kraft raubt. Zugegeben, der Alltag mit Kindern ist nicht permanent romantisch. In den Paartherapien höre ich Ähnliches von Männern, die beruflich sehr engagiert sind und abends nur noch ausruhen und die Füsse hochlagern wollen – mehr liegt angeblich nicht mehr drin.

Nicht nur spontaner Sex ist gut

Hauptverantwortlich für diese Durststrecken in vielen Paarbeziehungen ist der Mythos: Sex ist nur gut, wenn er spontan stattfindet. Offenbar sind die meisten Paare davon überzeugt, dass eine sexuelle Begegnung aus heiterem Himmel, völlig spontan und dann noch bei beiden mit voller Leidenschaft beginnen sollte. Liebespaare, die sich seit drei Wochen kennen, fällt das auch gar nicht schwer. Anders ist es bei Langzeitpaaren. Übrigens haben 60-jährige Paare, die sich neu kennenlernen, mehr Sex als 30-jährige, die seit drei Jahren zusammen wohnen.

Ronald, 39, und Sophia, 36, sitzen mit traurigem Blick in meiner Praxis. Er ist in zweiter Ehe mit der attraktiven Sophia verheiratet, sie haben zusammen neun Monate alte Zwillinge. Leider hätten sie seit Monaten keinen Sex mehr, weil seine Frau abends total erschöpft sei. Er habe auch einen anstrengenden Beruf, doch Lust auf Lust habe er trotzdem, und zwar mehrmals in der Woche. Er befürchte, dass er längerfristig damit nicht klarkomme. Er würde alles tun, um seine Frau zu unterstützen.

Planen Sie einen Liebesabend

Mein Vorschlag, mal einen sogenannten Liebesabend zu planen, versetzt die beiden in skeptisches Staunen. «Aber das ist doch total unromantisch», höre ich oft von Paaren oder: «Ist das Sex auf Befehl? Jetzt müssen wir auch noch die Liebe in die Agenda eintragen! Wie soll da Lust aufkommen?» «Und Sie denken, meine Frau ist mit diesem Vorschlag einverstanden, einmal in der Woche einen Liebesabend – und dann auch noch geplant?», fragt er mich. Seine Frau schaut mich mit wachen Augen an und sagt: «Da mache ich mit.»

Wichtig ist, dass die Paare im Voraus verbindlich vereinbaren, wer beim nächsten Mal die Initiative übernimmt. Wer die Initiative hat, ist auch verantwortlich für die «Specialeffects», das heisst, er beziehungsweise sie muss schauen, dass das Massageöl, die Musik, die Erdbeeren im Sekt oder die Kerzen um die Badewanne und die Lektüre zum Vorlesen bereit sind. Die Erfahrung zeigt, dass es funktioniert, und zwar zur grossen Überraschung der meisten Paare, die nach ein paar Wochen wieder mit einem Lächeln in der Praxis erscheinen.

Gehen Sie spontan in die Ferien? Laden Sie spontan mehrere Leute zum Essen ein? Zügeln Sie spontan in eine andere Stadt? Viele Dinge in unserem Leben planen wir, und gerade weil wir sie planen, können wir uns innerlich damit auseinandersetzen und uns darauf freuen.

Sogar zwei Mal Sex pro Woche

Sophia und Ronald wählten den Donnerstag für einen Liebesabend. Sie erzählte, dass sie sich auf den Abend freute und schaute, dass der Donnerstag nicht der Waschtag war und das Treppenhaus nicht geputzt werden musste. Und das Beste sei gewesen, sagte sie, dass sie den Rest der Woche ohne Schuldgefühle in seinen Armen einschlafen durfte. Und in einer Woche hätten sie sogar zwei Mal Sex gehabt.

Völlig anders ist die Situation von Andreas, 61, und Susanne, 59. Beide sind beruflich sehr engagiert. Sie haben beschlossen, jetzt, wo die Kinder erwachsen sind, das Leben ruhiger zu nehmen. Doch jetzt müssen sie feststellen, dass ihnen die Sexualität abhanden gekommen ist, was vor allem Susanne sehr bedauert. Zudem muss Andreas regelmäs­sig Medikamente nehmen, die seine Potenz beeinträchtigen. Ein Gespräch mit  seinem Hausarzt war hilfreich, und er verschrieb ihm nach gründlicher Abklärung die blauen Pillen. Die beiden schauten mich an: «Wie sollen wir jetzt weiterfahren?» «Jetzt müsst ihr mal mit einem Liebesabend anfangen», sagte ich und erklärte den beiden die Regeln. Susanne wollte, dass Andreas für den ersten Liebesabend die Führungsrolle übernimmt, wozu er nach kurzem Zögern einwilligte.

Über Wünsche und Vorlieben sprechen

Nach drei Wochen erzählten die beiden, dass sie seit ewigen Zeiten zum ersten Mal wieder richtigen und genussvollen Sex hatten. Die blauen Pillen seien hilfreich gewesen und hätten Andreas die Angst genommen, es könnte einmal mehr nicht klappen. Nun seien sie am Üben und Lernen, miteinander über Wünsche und Vorlieben zu sprechen.

Dann noch das Paar mit den vier Jugendlichen in der Pubertät. «Wann sollen wir denn Sex haben? Unsere Kinder gehen nach uns ins Bett, und wenn es nicht ruhig ist im Haus, können wir uns nicht entspannen und die Lust kommt nicht auf.» Zum Glück ist der Mann freiberuflich tätig. Deshalb schlug ich dem liebenswürdigen Paar vor: «Wie wäre es jeweils am Mittwochvormittag, wenn die Jungmannschaft in der Schule ist?» Beide stellten fest, dass sie oft Lust am Morgen haben, aber es nicht gewagt haben, das anzusprechen.

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Henri Guttmann