Sex – MS hin oder her

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Wie die meisten Menschen trauen sich auch Multiple Sklerose-Betroffene kaum, über sexuelle Störungen zu reden. Dr. Clauce Vaney über das Spiel der Geschlechter trotz MS und die praktischsten Tipps.

Wenn gezielt danach gefragt wird, was auch von ärztlicher Seite zu wenig gemacht wird, sind Sexualfunktionsstörungen bei MS sehr häufig. Je nach Fachautor und Dauer der Krankheit sowie dem Ausmass der Behinderung kommen Sexualstörungen bei 40 bis 80 Prozent der Frauen und bei 50 bis 90 Prozent der Männer mit MS vor. Verglichen mit der sogenannten Normalbevölkerung finden sich Sexualstörungen also drei- bis viermal Mal häufiger bei MS-Betroffenen.

Primäre Sexualfunktionsstörungen entstehen, wenn die im Rückenmark oder im Hirn vorhandenen Herde direkt sexuelles Empfinden und sexuelle Funktionen beeinträchtigen. Bei Männern können ein Verlust der Erektionsfähigkeit sowie Störungen beim Samenerguss beobachtet werden. Frauen hingegen beklagen Trockenheit der Vagina, Libidoverlust, unangenehme Empfindungen im Genitalbereich oder eine eingeschränkte Erregungsfähigkeit bis hin zum ausbleibenden Orgasmus.

Claude VaneySekundäre Sexualfunktionsstörungen entstehen indirekt, wenn zum Beispiel Blasenstörungen mit Inkontinenz eine normale Sexualfunktion erschweren oder nicht zulassen. Weiter kann Fatigue das sexuelle Interesse mindern, die Spastizität das Finden von geeigneten Positionen beim Koitus erschweren und letztlich können Schmerzen die Libido wohl kaum aufflackern lassen. Wenn psychosoziale Faktoren zu einer veränderten Wahrnehmung des eigenen Körpers führen und so Freude und Lust an der Sexualität einschränken, spricht man von tertiären Sexualfunktionsstörungen. Aussagen wie: «Ich kann doch nicht gleichzeitig Liebhaber und Pfleger sein!» oder «Nun, da ich ein Pflegefall bin, findet er mich nicht mehr attraktiv!», weisen auf das Vorliegen von tertiären Sexualfunktionsstörungen hin.

Bei erektiler Dysfunktion können erektionsfördernde Medikamente mit gutem Erfolg angewendet werden. Als mögliche Nebenwirkungen ist mit Durchfall, verstopfter Nase oder Gesichtsrötung zu rechnen. Dafür haben diese Tabletten, verglichen mit früheren Methoden, den Vorteil, nur in den seltensten Fällen einen Priapismus – eine über Stunden anhaltende, schmerzhafte Erektion – zu verursachen.
 Die Dosis ist individuell anzupassen. Von den Krankenkassen werden die Kosten eventuell übernommen – fragen lohnt sich. Doch auch nach der Einnahme von Viagra und Co wird man beim Schauen eines Fussballspiels im Fernsehen wohl kaum eine Erektion bekommen. Vielmehr ist es wichtig, auf erotische Reize und Botschaften der Partnerin zu achten und dafür empfänglich zu sein.

Die verminderte Feuchtigkeit der Vagina lässt sich durch verschiedene im Handel erhältliche Gels beheben. Weil eine verminderte Empfindung im Genitalbereich zu den typischen Beeinträchtigungen gehört, ist es manchmal nötig, mit anderen Stimulationsmethoden wie Masturbation, oralem Sex oder der Verwendung eines Vibrators nachzuhelfen. Haben Frauen Schwierigkeiten, beim Sex den Urin zu halten, hat sich das vorgängige Wasserlösen – eventuell mittels Selbstkatheterisierung – bewährt. Erschwert die Spastik den Geschlechtsverkehr und das Eindringen, können spastikreduzierende Medikamente hilfreich sein, deren richtige Dosis individuell ermittelt werden muss.

Es gibt keine einfachen Methoden, die verloren gegangene Libido wieder wachzurufen. Es sollte nicht vergessen werden, dass Sexualität nicht reduzierbar auf körperliche Reaktionen ist. Anders ausgedrückt bedeutet Sexualität mehr als nur Potenz oder Orgasmusfähigkeit. Geborgenheit, Zärtlichkeit und Lust sind wichtige Facetten des Liebesspiels. Gehen Sie gemeinsam mit Ihrem Partner auf Entdeckungsreise und erforschen Sie neue Dimensionen Ihrer Sexualität trotz möglicher funktioneller Einschränkungen.

Handkehrum ist es wichtig zu wissen, dass geringes oder fehlendes sexuelles Interesse nicht als krankhaft anzusehen ist, besonders wenn beide Partner daran keinen Anstoss nehmen und wenn ihre Bindung auf anderen Säulen ruht.

In der Beratung von MS-Betroffenen geht es weniger darum, ein «normales Sexualleben» herzustellen, sondern vielmehr darum, die Teilhabe am Spiel der Geschlechter dort zu unterstützen, wo es von den Betroffenen erwünscht ist. Sexuelle Zufriedenheit wird ja nicht nur vom Ausmass der Sexualstörungen bestimmt, sondern hängt viel mehr von der Fähigkeit des Paares ab, Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um bestmöglich mit den Symptomen der Erkrankung umzugehen.

Dr. med. Claude Vaney, FMH Neurologie, Chefarzt der neurologischen Rehabilitations- und MS-Abteilung,
 Berner Klinik Montana, Crans-Montana

 

Praktische Tipps

Machen Sie kein Geheimnis aus Ihren sexuellen Wünschen

Vertrauen Sie nicht darauf, dass der Partner Ihre sexuellen Bedürfnisse errät. Eine anzügliche Bemerkung am Morgen, ein erwartungsvoller Anruf während des Tages oder ein kleiner Liebesbrief sind Zeichen, die dem Partner zeigen: Ich will Dich!

Schaffen Sie sich eine angenehme, stimulierende Umgebung

Liegen Sie, je nach Lust, auf einer bequemen Couch oder auf einem Bett. Andere mögen lieber ein Wasserbett oder einen weichen Teppichboden, den Rollstuhl oder die Badewanne. Das Licht gedämpft oder hell, Kerzenschein oder Dunkelheit.

Planen Sie den Sex

Es ist eine irrige Annahme zu glauben, sexueller Kontakt müsse sich ganz von selbst, spontan ergeben. Frisch Verliebte planen jedes Detail, nichts wird
dem Zufall überlassen. Wenn Alltagspflichten Energie rauben, ist die sexuelle Begegnung mit dem Partner sorgfältig zu planen, erfahrungsgemäss auf einen Zeitpunkt, wenn beide ausgeruht und entspannt sind.

Vermeiden Sie Lust tötende Aktivitäten

Ein ausgiebiges Nachtessen mit zwei Flaschen Wein ist zwar wunderbar, aber wenn Sie danach auf ein intimes Zusammensein hoffen, werden Sie enttäuscht sein, und es wird lediglich zu einer schwesterlichen Umarmung reichen. Gymnastik oder andere nicht allzu erschöpfende Sportarten verbessern das Körpergefühl und machen erwiesenermassen Lust auf Sex.

Benutzen Sie Ihre Fantasie

Erzählen Sie sich gegenseitig Ihre sexuellen Fantasien. Wenn die eigenen nicht reichen, holen Sie sich Anregungen aus einschlägigen Werken.

Spielen Sie miteinander

Entdecken Sie andere Wege zum Orgasmus als den Geschlechtsverkehr. Beobachten Sie sich gegenseitig beim Masturbieren, experimentieren Sie, welche Berührungen an welchen Stellen des Körpers dem Partner Lust bereiten, massieren Sie sich gegenseitig.

Überdenken Sie das Ziel

Nicht jeder sexuelle Kontakt muss in einem womöglich gemeinsamen Orgasmus enden. Geben Sie sich selbst und dem Partner die Erlaubnis, das Zusammensein zu geniessen, ohne auf einen Höhepunkt hinzuarbeiten.

Seien Sie offen für Hilfsmittel

Wohlduftende Öle oder Lotions für Körpermassagen, Gleitmittel für die Vagina, vielleicht auch ein Vibrator. Grundsätzlich können Sie alle Mittel verwenden, welche die Sinne wecken und das sexuelle Vergnügen für beide Partner erhöhen.

Reden Sie über Sex

Sexhandbücher oder Videofilme, in denen verschiedene Stellungen gezeigt werden, gibt es genug. Suchen Sie zusammen nach Publikationen, die Ihnen gefallen. Schauen Sie sich gemeinsam an, was andere so treiben. Reden Sie darüber.