Stetig ein wenig bergab

MS 04.21

Mit 45 Jahren hatte ich den ersten diagnos­tizierten MS-Schub – auf rund 3000 m Höhe in den Ötztaler Alpen beim Mineralien suchen mit meinem Sohn. Auf der ganzen linken Seite war ich gefühllos. Wieder in der Schweiz habe ich zuerst meinen langjährigen Physiotherapeuten gefragt, was das sein könnte. Er verwies mich an den Hausarzt, da er nichts machen könne. Mein damaliger Hausarzt meinte, ich solle den Schiesssport aufgeben. Es handle sich um eine reine Verkrampfung vom Pistolenschiessen. Er gab mir noch Schmerztabletten und eine Verordnung für Physiotherapie mit.

Fehlgeschlagene Behandlungsversuche

Da ich mich mit dem nicht zufriedengab, meldete ich mich beim Spitalarzt und Internisten der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, damals noch Burghölzli. Ich arbeitete dort 19 Jahre bis zur Pensionierung als Sekretärin. Er überwies mich sofort zu einem Neurologen. Es folgten diverse Untersuchungen. Nach drei Wochen stand die Diagnose fest: Multiple Sklerose. Ich erhielt fünf Infusionen mit Cortison.

Danach hatte ich lange Zeit Ruhe. Es war alles beinahe wie früher. Bis nach rund zwölf Jahren wieder ein massiver Schub folgte. Man versuchte es mit Interferon-Spritzen. Therapieabbruch schon nach drei Wochen wegen der schlimmen Nebenwirkungen. Drei Jahre später ein neues Medikament. Auch wieder starke Nebenwirkungen.

Noch nie eine Depression

Bis jetzt habe ich wegen meiner MS noch nie eine Depression gehabt und meine Augen sind Gott sei Dank auch nie betroffen gewesen. Ich benutze nur für das 300-Meter-Schiessen eine Schiessbrille. Für 50 m habe ich noch nie eine Brille getragen. Mit dem Schiessen habe ich im Alter von 15 Jahren begonnen und das Autofahren habe ich mit 18 gelernt. Beides übe ich mit 70 Jahren immer noch aus.

Nach den gescheiterten Versuchen mit Medikamenten habe ich auf die Natur gesetzt. Vor allem Hagebutten-Pulver und Physiotherapie zweimal wöchentlich sowie die Reha in Bad Zurzach halfen mir. Dennoch ist es stetig ein wenig bergab gegangen. Seit acht Jahren brauche ich einen Rollator.

Neue Therapie in Tablettenform

Letztes Jahr meinte mein Hausarzt, dass er wieder einmal eine neurologische Beurteilung meines Zustandes machen wolle. Er sehe ja, dass das Laufen trotz Rollator stetig mühsamer werde. Und so bin ich dann im Neurozentrum Bellevue bei Prof. Dr. Czaplinski gewesen. Er meinte, dass es jetzt für einen Fall wie meinen endlich eine neue Therapie in Tablettenform gebe. Sie könne den Verlauf der Krankheit verlangsamen oder sogar stoppen.

Im Februar 2020 habe ich mit der Behandlung begonnen. Seither hat sich mein Zustand nicht verschlechtert und ich bin zuversichtlich, dass das so bleiben wird.

MS Blick
Käthi Bösch ist eine leidenschaftliche Schützin. Sogar der „Blick“ berichtete über Ihre Erfolge.

Neue Hoffnung

Zur Behandlung der sekundär progredienten Form der MS gibt es endlich neue Behandlungsoptionen.

Was ist das für eine Form der MS, bei der es stets ein wenig bergab geht?

Multiple Sklerose beginnt in den meisten Fällen mit Schüben, die sich mehr oder weniger vollständig zurückbilden. Im Verlauf der Erkrankung kann sich die Häufigkeit der Schübe reduzieren oder sie können sogar ganz aufhören. Dabei kommt es oft zu einer schleichenden Verschlechterung. Bis zum Übergang in dieses chronisch progrediente Stadium vergehen im Durchschnitt 15 bis 20 Jahre, was aber sehr individuell ist. Nicht bei allen MS-Patienten kommt es zu dieser sekundär progredienten Phase der Erkrankung, viele verbleiben dauerhaft in einem schubhaften Verlauf.

Wer ist von dieser schleichenden Form von MS betroffen?

Wahrscheinlich mehr als 50 Prozent aller Patienten entwickeln aus einer ursprünglich schubförmigen Multiplen Sklerose innerhalb von 10 bis 20 Jahren eine sekundär progrediente Form. Es ist nicht möglich vorherzusehen, welcher MS-Patient im Verlauf der Erkrankung in die sekundär progrediente Phase übergeht.

Offensichtlich ist die Behandlung schwierig. Täuscht dieser Eindruck?

Nein, der Eindruck täuscht nicht. Die Behandlungsoptionen bei der sekundär progredienten Multiplen Sklerose sind limitiert und mitunter sehr unbefriedigend. Auch ist die Therapie komplizierter, da die zugrunde liegenden Mechanismen weniger gut erforscht sind als beim schubförmigen Verlauf. Auch die Behandlung von Spastik, Blasenentleerungsstörung, Schmerzen etc. ist eine grosse Herausforderung für den Neurologen.

Was ist von der neuen oralen Therapie zu ­erwarten?

Sie sollte das Fortschreiten der Behinderung – sowohl durch die neurologischen Symptome als auch durch die neuropsychologischen Defizite wie Gedächtnisstörung, Fatigue etc. – bei der sekundär progredienten Form der Multiplen Sklerose verlangsamen. Auch bei den Krankheitsherden im MRI und beim Hirnvolumen sollte sich eine Verbesserung zeigen. Diskutiert wird auch, dass die neue orale Therapie gewisse Wiederherstellungseigenschaften haben könnte, welche die Regeneration von geschädigtem Myelin im zentralen Nervensystem unterstützen und möglicherweise eine weitere Neurodegeneration verhindern kann.

Für wen kommt die neue Therapie infrage?

Der neue Wirkstoff wird angewendet zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit sekundär progredienter Multipler Sklerose mit Krankheitsaktivität, nachgewiesen durch Schübe oder Bildgebung der entzündlichen Prozesse. Vor der Einleitung der Therapie müssen die Patienten strikte Kriterien für die Behandlung erfüllen.

MS Dr Adriana Strakova 268
Dr. med. Adriana Strakova, Fachärztin für Neurologie, Neurozentrum Aarau