Innere Lebendigkeit und Weitsicht

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Mehr innere Freiheit, weniger leben im Autopilotmodus. Dr. med. Christine Poppe, Chefärztin Psychotherapie und ambulante Psychiatrie im Sanatorium Kilchberg, stellt einfache, aber wirkungsvolle Übungen für mehr Achtsamkeit vor.

Achtsamkeit bedeutet, sich der gegenwärtigen Erfahrung von Moment zu Moment bewusst zu sein. Das kann dazu verhelfen, die Dinge so zu sehen und zu akzeptieren, wie sie sind, anstatt gegen das Unvermeidbare oder Nichtveränderbare anzukämpfen und unnötige Energien dabei zu verlieren. Unsere Tendenz, uns mit uns selbst zu beschäftigen und unser eigenes Handeln oder unseren Selbstwert kritisch zu beurteilen, kann durch Achtsamkeit unterbrochen werden, in dem wir wieder in den aktuellen Moment zurückkehren, so wie er ist, und dabei eine Haltung von Freundlichkeit und Mitgefühl kultivieren. Wir können erfahren, dass angenehme wie unangenehme Gefühle zu unserem Erleben dazugehören und wir mit ihnen sein können. Die Wirkungen von Achtsamkeit können weitreichend sein. Achtsamkeit fördert Präsenz und Klarheit, verschafft so innere Lebendigkeit und die nötige Weitsicht, um Probleme im Alltag in ihrer ganzen Komplexität zu analysieren und sich ihnen auf eine gute Art zu widmen. Zwischenmenschliche Begegnungen können an Reichtum gewinnen.

Achtsamkeit kann man lernen – im Rahmen von Übungen (zum Beispiel achtsam essen, die Natur wahrnehmen), formaler Meditation (zum Beispiel im Sitzen oder Gehen, achtsamer Körperwahrnehmung, Yoga) oder in intensiven Kursen und Retreats.

christine_poppe_sliderAm Anfang geht es darum, dass wir lernen, unseren Geist zu fokussieren. Das ist oft schwer, weil wir die Tendenz haben, mit unseren Gedanken abzuschweifen, uns Tagträumen hinzugeben oder unsere unmittelbare Erfahrung zu bewerten. Dann haben wir das Gefühl, dass das, was wir im Moment erleben, nicht gut genug ist oder nicht das ist, was wir erwartet oder gewollt haben. Wenn wir lernen, uns unserer Erfahrungen von Moment zu Moment bewusst zu werden, können wir Einsicht in unsere Gewohnheiten gewinnen und die nötige Freiheit entwickeln, diese zu unterbrechen. Die Fähigkeit, sich zu konzentrieren und die Aufmerksamkeit auszurichten, kann zum Beispiel durch Achtsamkeit auf den Atem oder das Gehen geübt werden.

Der Drei-Minuten-Atemraum

  1. Gewahrsein

Bringen Sie Ihre Aufmerksamkeit in den aktuellen Moment, indem Sie bewusst eine aufrechte und würdevolle Haltung einnehmen. Wenn möglich schliessen Sie Ihre Augen, dann fragen Sie sich: ‚Was nehme ich wahr … an Gedanken …an Gefühlen … und körperlichen Empfindungen? Vielleicht sind da Gedanken an Vergangenes oder Zukünftiges, angenehme oder unangenehme Gefühle, eine Anspannung oder auch gar nichts Besonderes. Auch das ist in Ordnung. Einfach nur beobachten, was ist, ohne etwas zu verändern oder erreichen zu wollen.

  1. Sammeln

Dann bringen Sie Ihre volle Aufmerksamkeit sanft zu Ihrem Atem, zu jedem Einatmen und zu jedem Ausatmen, so wie sie aufeinander folgen – eines auf das andere. Dabei müssen Sie auf keine besondere Art und Weise atmen. Wo spüren Sie Ihren Atem am lebendigsten? An der Nase, am Brustkorb oder an der Bauchdecke?
Ihr Atem kann als Anker dienen, um Sie in die Gegenwart zurückzubringen und einen Zustand von Aufmerksamkeit und Ruhe zu unterstützen.

  1. Erweitern – Ausdehnen

Dehnen Sie das Feld Ihrer Aufmerksamkeit von Ihrem Atem aus, so dass es die Wahrnehmung Ihres Körpers als Ganzes, Ihrer Haltung und Ihres Gesichtsausdrucks umfasst. Und bleiben Sie einige Atemzüge lang verbunden mit dieser Empfindung Ihres Körpers als Ganzes so gut es geht.

Diese Atemübung ermöglicht es, aus dem Autopilotmodus auszusteigen und sich mit den Erfahrungen im Moment zu verbinden. Mit der Zeit können Sie den Atemraum überall durchführen, im Bus und in der Tram. Vielleicht möchten Sie sich auch notieren, was Sie dabei entdecken.

Eine andere Möglichkeit, Achtsamkeit zu üben, ist das Gehen.

Achtsamkeit beim Gehen

Wenn Sie auf dem Weg zur Arbeit oder zum nächsten Termin sind, können Sie bei dieser Gelegenheit Achtsamkeit im Gehen praktizieren. Versuchen Sie einmal, nicht gleich darüber nachzudenken, was Sie beim nächsten Termin erwartet, wie der letzte verlaufen ist, was Sie als nächstes erledigen wollen. Sondern nehmen Sie einfach wahr, wie es sich anfühlt zu gehen. Auf eine friedvolle Art und Weise.

Machen Sie bei der Einatmung zwei Schritte und sagen dabei : „Ein, ein.“ Richten Sie dabei Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Fusssohlen und berühren sanft den Boden. Beim Ausatmen machen Sie zwei weitere Schritte und sagen dabei: „Aus, aus.“ Berühren Sie die Erde achtsam. Atmen Sie ganz natürlich und koordinieren Sie Ihre Schritte mit dem Atem. Bleiben Sie nicht in Ihrem Kopf, sondern bringen Sie Ihre Aufmerksamkeit hinunter in die Fusssohlen. Wie fühlen sich die Füsse beim Berühren des Bodens an? Spüren Sie den Unterschied zwischen dem Anheben und Absetzen des Fusses? Wie fühlen sich die Beine an, während das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagert wird?

Wie ist die Temperatur der Luft, während Sie gehen? Warm? Kalt?

Wenn die Gedanken abschweifen oder Gefühle Sie beschäftigen, nehmen Sie dies einfach nur wahr und bringen Sie die Aufmerksamkeit wieder zurück zum Gehen. Sie werden merken, dass Ihre Schritte fester und ausgeglichener werden und Sie Stabilität gewinnen.

Achtsamkeit erfordert regelmässige Praxis. Es ist wie bei einem Muskel, der durch Training stärker wird. Der Besuch von entsprechenden Kursen kann am Anfang hilfreich sein, um Unterstützung im Umgang mit möglichen Hindernissen zu erhalten. Achtsamkeit ist nicht mit Entspannung gleichzusetzen. Manchmal wird uns dabei auch Schmerzliches bewusst, was wir vorher verdrängt haben. Das kann passieren. Wir können uns dann absichtsvoll dem zuwenden und tun, was nötig ist.

Achtsamkeit bedeutet nicht, einen leeren Geist zu haben, emotionslos zu werden, sich vom Leben zurückzuziehen, dem Schmerz zu entkommen oder das Glück zu suchen. Es geht nur um das, was ohnehin schon da ist, unsere Erfahrungen im Hier und Jetzt.

Weitere Informationen unter www.sanatorium-kilchberg.ch.