Unentdeckt sind die Folgen fatal

Mann mit Lunge aus Papier Bild: AdobeStock, Urheber: Elena

Erstmals spürte Renate Shashoua die Beschwerden beim Tanzen. «Schon nach einem Tanz war ich total ausser Atem», erzählt sie. Sie war damals, mit 52 Jahren, leidenschaftliche Trachtentänzerin. Auch Bergwandern von ihrem Prättigauer Ferienhaus aus war nicht mehr möglich. «Es war, als ob ich Blei in den Beinen hätte.» Sie konnte die Symptome nicht deuten. Der Check-up beim Hausarzt war negativ, alle Werte bestens. «Er meinte, wahrscheinlich hätte ich eine chronische Bronchitis und gab mir ein Medikament. Nach drei Wochen sollte ich wiederkommen», sagt die 72-Jährige. Auch nach drei Wochen war keine Besserung feststellbar. Die Überweisung zu einem Pneumologen brachte dann die Diagnose. Nach einem Blut- und Lungenfunktionstest stand fest: Renate Shashoua leidet am seltenen, erbbedingten Alpha-1-­Antitrypsin-Mangel.

Renate Shashoua

In einer gesunden Lunge sorgt das Alpha-1-Antitrypsin dafür, dass die empfindlichen Lungenbläschen vor Entzündungen, die durch Krankheitserreger oder auch Tabakrauch verursacht werden, geschützt sind. Ist kein oder zu wenig Alpha-1-Antitrypsin vorhanden, reicht die Schutzfunktion nicht aus, was zu Lungen- und Leberschädigungen führen kann. Anstelle von Millionen elastischer Lungenbläschen bilden sich gros­se Blasen. So kann weniger frische Luft aufgenommen werden, und der Körper bekommt zu wenig Sauerstoff. Die Atemnot nimmt zu, die körperliche Leistungsfähigkeit wird immer mehr eingeschränkt. Die langfristige Folge ist ein Lungenemphysem. Ebenso können starke Schädigungen der Leber auftreten. Entdeckt wurde die Krankheit erst 1963.

Drei Millionen Betroffene weltweit

Der Mangel an Alpha-1-Antitrypsin ist ein Gendefekt. Ein Mensch erkrankt, wenn sowohl Mutter als auch Vater die Genveränderungen vererben. Bei Renate Shashoua traf das zu. Ihre Eltern hatten beide den Gendefekt. «Ich habe zwei Söhne. Denen habe ich die Mutation weitergegeben», sagt das Gründungs- und Vorstandsmitglied der Patientenorganisation Verein Alpha-1 Schweiz. Etwa 1600 Betroffene leben in der Schweiz. Spezialisten gehen davon aus, dass erst etwa 10 bis 20 Prozent erfasst sind. Weltweit geht man von drei Millionen Patien­tinnen und Patienten aus. Die Symptome treten oft bereits zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr auf.

Der Mangel an Alpha-1-Antitrypsin kann mit einer Substitutionstherapie ausgeglichen werden. Deshalb ist es wichtig, dass die Krankheit frühzeitig entdeckt wird. Eigentlich sollte jeder Patient mit COPD, der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung, einmal in seinem Leben auf Alpha-1-­Antitrypsin-Mangel getestet werden. Die ersten Symptome bei COPD wie Husten, Auswurf und Atemnot ähneln dem Alpha-1-­Antitrypsin-Mangel. Deshalb spricht man auch von genetischer COPD. Wichtig ist das vor allem für die Nachkommen. Wenn der Test die Diagnose bestätigt, kann frühzeitig mit der Therapie begonnen werden, bevor die Lungenschädigung zu gross ist. Ist die Krankheit fortgeschritten, erleichtert eine Sauerstoff­therapie das Atmen. Renate ­Shashoua schläft nachts mit Sauerstoff, tagsüber braucht sie ihn, wenn sie sich anstrengt. Aus dem Haus geht sie nur mit dem Sauerstoffkonzentrator. Die 72-Jährige kann nicht mehr tanzen und in den Bergen wandern, aber sie kann spazieren, nähen, kochen und geht jeden Tag an die frische Luft.

Wichtig für COPD-Patienten

Leiden Sie an COPD? Haben Sie sich noch nicht auf genetische Ursachen der Krankheit testen lassen? Gemäss den aktuellen Leitlinien sollte jeder Patient und jede Patientin einmal im Leben auf Alpha-1-Antitrypsin-Mangel überprüft werden. Schaffen Sie jetzt Klarheit für sich und Ihre Familie. Sprechen Sie Ihren Arzt darauf an.

Mehr Infos unter www.alpha-1.ch und www.lungenliga.ch

Eine frühe Diagnose verhindert Organschäden

Prof. Dr. med. Christian Clarenbach, Leitender Arzt, Klinik für Pneumologie Universitätsspital Zürich

Dr. Christian Clarenbach zum Alpha-1-Antitrypsin-Mangel

Wie wird ein Alpha-1-Antitrypsin-­Mangel diagnostiziert?

Für die Diagnose wird die AAT-Konzentration im Blut bestimmt. Das kann der Hausarzt machen. Es ist wichtig, dass nicht gleichzeitig eine Entzündung vorliegt. Deswegen wird in der Regel auch der Entzündungswert CRP gemessen. Wenn AAT erniedrigt ist, wird der Genotyp in einem spezialisierten Labor untersucht. Dazu braucht es einen Wangenabstrich. 

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Diese genetische Erkrankung ist bis heute nicht heilbar. Ziel ist es, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen. Für Betroffene mit schwerem AAT-Mangel und fortgeschrittener COPD kommt eine längerfristige AAT-Substitutionstherapie infrage. Das mangelnde Protein wird ersetzt und meist wöchentlich als Infusionstherapie während zirka 30 Minuten verabreicht. Da Rauchen die Erkrankung negativ beeinflusst, ist ein Rauchstopp eine der Voraussetzungen für die Infusionstherapie. Neben der Substitutionstherapie erhalten die Betroffenen inhalative Medikamente zur Erweiterung der Bronchien.

Wie wichtig ist eine frühzeitige Diagnose?

Sie ist entscheidend, da die Schädigung der Lunge nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Symptome treten bei Rauchern mit schwerem Alpha-1-Antitrypsin-Mangel oft schon um das 40. Lebensjahr auf, werden aber leider häufig nicht erkannt. Bei jedem Patienten mit Anzeichen einer COPD sollte daher ein Test veranlasst werden. Bei früher Diagnose kann der Krankheitsverlauf überwacht und eine schwere Organschädigung verhindert werden. Grundsätzlich ist es aber wichtig, dass sich jeder COPD-Patient einmal in seinem Leben testen lässt, damit Klarheit für die Familie und allfällige Nachkommen besteht.