Was ist, wenn das Coronavirus auch mich erwischt?

Auf einmal ist das Thema sterben ganz nah. Madeleine Baumann über schlaflose Nächte, neues Aufatmen und nie gekannte Freiräume.

Madeleine Baumann in der Küche Cut

Auf einmal ist alles anders. Innerhalb weniger Wochen hat sich die ganze Welt verändert. Die grosse weite Welt ist nicht mehr wie sie einmal war. Und erst recht gerät unsere eigene, kleine Welt gerade komplett aus den Fugen.

Ausnahmezustand macht Angst

Es macht Angst und verunsichert. Ein Ausnahmezustand, wie ihn niemand für möglich gehalten hätte. Plötzlich darf man nur noch nach draussen zum Einkaufen und zum Arztbesuch. Sozialen Kontakte muss man vermeiden.

Die ersten Tage fühlte ich mich völlig verunsichert. Eingesperrt, isoliert und bevormundet. In der Nacht kreisten meine Gedanken. An Schlaf war nicht zu denken.

Was ist, wenn das Coronavirus auch mich erwischt und ich sterbe? Oder jemand, der mir nahesteht? Wenn mein Partner gehen muss? Viele Fragen und viele Ängste. Ich habe nun die Wahl, ob ich mich diesen Ängsten stellen oder ob ich in ihnen gefangen bleiben will.

Altes vergeht, Neues entsteht

Ich gehe viel in die Natur, was man ja zum Glück noch darf. Beim Wandern merkte ich, dass man die Zeit der Isolation auch als Geschenk annehmen darf. Plötzlich hat man Zeit. Vieles, was vorher wichtig war, hat seine Bedeutung verloren. Dafür kommen Dinge zum Vorschein, die längst in Vergessenheit geraten sind. Altes vergeht, Neues entsteht.

Langeweile meldet sich nach langer Abwesenheit zurück. Wenn Sie sich ihr stellen und sie aushalten, werden Sie viel Neues über sich herausfinden. Sie werden auf Dinge stossen, die Sie schon lange machen oder ändern wollten. Warum nicht gerade jetzt mit einem Tagebuch anfangen? Aufschreiben hilft immer, die Gedanken zu sortieren.

Auf einmal ist das Thema sterben ganz nah. Wenn Sie es schaffen, sich auch diesem Thema zu stellen, wird es ein Gewinn. Fragen zu Ende zu denken, denen Sie bis jetzt ausgewichen sind, ist eine grosse Chance.

In der Stille in sich hineinhorchen

Vielleicht haben Sie ja auch den Wunsch und den Mut, sich der Frage nach dem Frieden in sich selbst zu stellen. Sich einmal in eine Kirche setzen, oder im Wald einfach an einem ruhigen Ort in der Stille in sich hineinhorchen. In einer erwartungsvollen Haltung gespannt sein auf das, was in der Stille zu hören ist. Vielleicht gilt es Beziehungen zu überdenken und zu klären.

Seitdem die Welt den Atem anhält und vieles stillsteht, gibt es ein neues Aufatmen. Der Himmel und das Wasser werden blauer. Die Natur beginnt sich zu erholen. Die Menschen werden ruhiger. Es gibt weniger Unfälle, Verletzungen, Herzinfarkte und Hirnblutungen. Die soziale Distanz bringt auf einmal eine neue Nähe. Das Leben gewinnt eine neue, längst vergessene Qualität.

Ich weiss, ich kann nur über meine eigene Situation schreiben. Ich habe meine Rente. Meine Existenz ist fürs Erste gesichert. Ich bin nicht ganz allein, lebe in einer Partnerschaft. Und ich habe keine Kinder zu Hause, die ich unterrichten und bei guter Laune halten muss.

Herausforderungen annehmen

Eines habe ich aber im Laufe der Zeit gelernt: Wenn ich mich einer Herausforderung stelle und sie bewusst annehme, verliert sie ihre Bedrohung. Ich lerne etwas über mich selbst und bekomme einen neuen, bisher unbekannten Freiraum.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 06.04.2020.

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