Wenn die Angst übermächtig wird

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Die Corona-Pandemie ist eine grosse gesundheitliche Belastung, weil sie uns gleichzeitig mit drei Arten von Stress konfrontiert: mit biologischem, psychischem und sozialem Stress. Die Unsicherheiten wegen der Pandemie und der vielen Einschränkungen im Alltag führen zu einem verstärkten psychischen und sozialen Stresserleben, das psychiatrische Erkrankungen, vor allem Angsterkrankungen, Depressionen und Zwangsstörungen auslösen oder reaktivieren kann. Zudem ist das Virus selbst ein biologischer Stressor. Er löst im Körper eine Immunreaktion aus, die eigentlich dem Erhalt der Gesundheit dient.  Dabei spielen entzündungsauslösende und entzündungshemmende Botenstoffe, sogenannte Cytokine, eine entscheidende Rolle. Normalerweise stehen sie in einer gewissen Balance zueinander. Bei Menschen mit schweren Krankheitsverläufen wird diese Balance gestört. Es kann zu einer überschiessenden Reaktion entzündungsauslösender Botenstoffe, dem Cytokin-Sturm, kommen. Er ist meistens lebensgefährlich. Bei der Suche nach wirksamen Medikamenten geht es deshalb auch darum, diesen Cytokin-Sturm verhindern zu können.

Virus beeinträchtigt das Gehirn

Schon länger bekannt ist, dass bei Virus-Infektionen durch die verstärkte Aktivierung von Cytokinen auch das zentrale Nervensystem und damit das Funktionieren des Gehirns beeinträchtigt werden kann. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Neuroinflammation. Einschränkungen von Konzentration und Gedächtnis, Erschöpfung und Schlafstörungen, erhöhte Anspannung und Ängste sowie Beeinträchtigungen der Stimmung und der Regulation von Gefühlen können die Folgen sein. Bei schwer verlaufenden Virus-Infektionen wurde beobachtet, dass diese Symptome noch viele Monate nach Abklingen der Infektion weiterbestehen können.

Ganz ähnlich wie beim biologischen Stress spielen auch bei psychischen und sozia­len Stresssituationen die entzündungsauslösenden Cytokine eine wesentliche Rolle. Wie stark sie aktiviert werden, hängt von der Entwicklung in der Kindheit und Jugend ab. Kommt es bereits in frühen Entwicklungsphasen des Gehirns, in denen die verschiedenen Bereiche des Stressverarbeitungssystems gerade am Ausreifen sind, zu körperlichen, psychischen oder sozialen Überforderungssituationen, kann die Entwicklung dieser Gehirnbereiche und damit ihr Funktionieren dauerhaft beeinträchtigt werden.

Prof. Dr. med. Ulrich Egle, Fachexperte für Psychosomatik und Senior Consultant

Angsterkrankungen gehören zu den häufigsten psychischen Folgeerscheinungen von Stress. Sie betreffen in Westeuropa etwa jeden siebten Erwachsenen. Bei schwerwiegenden und bedrohlichen Ereignissen – und zu denen gehört die Covid-19-Pandemie – nimmt ihre Häufigkeit noch weiter zu. Angst ist zunächst ein Warnsignal, wenn wir in einer Situation ein starkes Unsicherheitsgefühl haben und es uns schwerfällt, Entscheidungen zu treffen. Wann handelt es sich aber um eine schwerwiegendere Angsterkrankung, die im Alltag viel Raum einnimmt? In der gegenwärtigen Pandemie besonders häufig sind generalisierte und gesundheitsbezogene Ängste. Sie sind anhand von drei Merkmalen zu erkennen:

Angst vor dem Kontrollverlust

Übermässige Sorgen wegen Situationen, die als nicht kontrollierbar erlebt werden. Sie weiten sich mit der Zeit auf immer mehr Lebenssituationen aus. Manchmal tritt jedoch auch eine Angst auf, wenn Dinge gut laufen. Das wird als «die Ruhe vor dem Sturm» gesehen, als ob etwas Schlimmes passieren könnte, wenn man sich zu wenig Sorgen macht. So oder so: Im Vordergrund steht ein andauerndes Sich-Sorgen, das den Alltag weitgehend bestimmt und ihn beeinträchtigt.

Schmerzen und Schlafstörungen

Hohe körperliche Anspannung, Nervosität und Überempfindlichkeit gegenüber Sinneseindrücken wie Geräusche, Licht oder Schmerzen. Diese körperliche Anspannung kann zu Kopfschmerzen, Muskelverspannungen und Gliederschmerzen, Magen-Darm-Problemen, Ein- und Durchschlafstörungen, Konzentrationsstörungen sowie Rastlosigkeit führen.

Die körperlichen Beschwerden können eine erhöhte Selbstbeobachtung zur Folge haben, mit der Sorge, eine schwerwiegende Krankheit zu bekommen. Diese gesundheitsbezogenen Ängste können sich auch auf Familienangehörige beziehen.

Die Gefahr, an einer generalisierten Angststörung zu erkranken, nimmt mit dem Alter zu. Noch verstärkt wird sie durch das Wissen, dass das Risiko im Alter für schwere Verläufe der Covid-19-Infektion steigt.

Generalisierte Ängste werden oft fälschlich als Depression diagnostiziert und deshalb nicht richtig behandelt. Wichtig ist auch die Unterscheidung von anderen Ängsten, zum Beispiel Höhen- oder Flugangst oder Angst vor Menschenmengen. Neben der richtigen Diagnose ist auch eine spezifische Behandlung erforderlich. Dafür gibt es spezielle psychotherapeutische Behandlungsverfahren, die eine besondere Schulung der Psychotherapeuten voraussetzen. Ungünstige Prägungen in der Kindheit und ein erhöhtes Stresserleben im Erwachsenenalter spielen bei den heutigen Behandlungsverfahren eine immer grössere Rolle.

Neben Angsterkrankungen können während der Covid-19-Pandemie stressbedingt vor allem depressive Störungen auftreten. Verursacht werden sie durch eine anhaltende körperlich und psychisch überfordernde Belastungssituation, zum Beispiel als Mitglied eines Behandlungsteams für Covid-19-Patienten oder als beruflich Selbstständiger bei der Lösung existenzgefährdender Probleme.

Sanatorium Kilchberg

Führend in der Behandlung von stressbedingten Erkran­kungen wie Angst- und Zwangsstörungen, Burn-out, psychosomatischen Schmerzen und Depressionen.

Sanatorium Kilchberg, Alte Landstrasse 70, 8802 Kilchberg, Tel. 044 716 42 42
www.sanatorium-kilchberg.ch

 

Angst Bild
Der Angst Ausdruck verleihen. Entstanden in der Kunsttherapie des Sanatoriums Kilchberg, April 2020

 

Plötzlich waren all die Bilder von damals wieder da

Erst Herzinfarkt, dann Panikattacken. Tobias Ballweg, ­Leitender Psychologe am Sanatorium Kilchberg, im Gespräch mit einem Angstpatienten.

Herr Gehring, nach knapp sechs Wochen ­stehen Sie kurz vor dem Ende Ihres Aufenthalts im Sanatorium Kilchberg. Weshalb liessen Sie sich stationär behandeln?

Im August 2018 hatte ich einen Herzinfarkt. Danach habe ich mich eigentlich recht schnell wieder erholt. Aber ein Jahr später bekam ich plötzlich eine Panik­attacke.

Waren Sie nach dem Herz­infarkt auch ­psychisch in einer anderen Verfassung?

Nach so einem Ereignis nimmst du deinen Körper völlig anders wahr. Jedes Zwicken, jede Veränderung. Und man denkt die ganze Zeit: Jetzt ist wieder was, irgendwas stimmt nicht. Aber Angst hatte ich da eigentlich noch keine.

Was Sie beschreiben, nennt man Checking, ein vermehrtes und intensives Prüfen, ob noch alles in Ordnung ist. Das stellt sich nach Gefahren ziemlich häufig ein.

Angst Tobias Ballweg
Tobias Ballweg

Bei mir war das so. Ich hatte dann eine Nachuntersuchung im Spital – etwa ein Jahr nach dem Herzinfarkt. Mir wurde ein Kontrastmittel gespritzt, und das habe ich regelrecht körperlich gespürt. Es hat sich schlecht angefühlt. Plötzlich waren all die Bilder von damals wieder da: Das Auf-dem-Boden-Liegen, die Schmerzen in der Brust und dann die Angst, obwohl ich ja wusste: Mein Herz ist okay.

Das heisst, gedanklich war Ihnen klar: Es ist alles in Ordnung. Aber die Gefühle waren noch mit dem bedrohlichen Erlebnis verknüpft.

Ja, und so ging es dann auch weiter. Eines Nachts bin ich mit Herzrasen aufgewacht. Auch da wusste ich eigentlich, das ist kein Herzinfarkt, es fühlte sich ganz anders an, es war Panik. Aber trotzdem habe ich die Notfallnummer angerufen und mich ins Spital bringen lassen.

Haben Sie sich auch psychotherapeutische ­Unterstützung gesucht?

Ja. Aber ich war zunehmend gestresst und erschöpft. Nicht nur bei der Arbeit. Und dann wurden die Ängste immer diffuser.

Was meinen Sie damit?

Ich konnte zum Beispiel laute Geräusche nicht mehr ertragen oder Menschenmengen. Es kam immer häufiger Panik auf und das Gefühl, ich muss weglaufen.

Anfang Februar sind Sie dann krank-geschrieben worden.

Eigentlich ist es dadurch nur noch schlimmer geworden. Denn ich wusste mit mir nichts anzufangen. Und auch mit dem Allein­sein hatte ich Schwierigkeiten, obwohl ich früher nie ein Problem damit hatte.

Können Sie sich das erklären?

Wenn ich alleine war, habe ich mich hilflos gefühlt. Ich dachte: Wenn jetzt etwas passiert, ist niemand da. Und dann kamen noch Corona, der Lockdown und die dauernde Berichterstattung.

Sie waren in einer Alarmstimmung.

Ja, so könnte man es nennen. Ich dachte, jetzt musst du etwas machen.

Sie haben sich dann für eine stationäre Behandlung entschieden. Ist Ihnen die Entscheidung schwer­gefallen?

Ich hatte ja keine Alternative. Am Anfang des Klinikaufenthalts hab ich ziemlich Mühe gehabt. Ich habe wenig geschlafen, war grantig und wollte eigentlich schon wieder gehen. Aber dann hab ich irgendwie gemerkt: Es bringt doch etwas.

Was hat Ihnen am meisten gebracht?

Es sind verschiedene Sachen. Zum einen die Gruppentherapien und der Austausch mit den Mitpatienten. Es war ein guter Zusammenhalt. Und dann die konkreten Übungen, die ich auch zu Hause machen kann. Atemtechniken kannte ich schon, aber nicht die gezielte Muskelentspannung oder die Achtsamkeit –, wobei ich mit der Akzeptanz der Angst noch etwas Probleme habe.

Im Kern geht’s ja darum, nicht gegen schwierige Gefühle anzukämpfen, weil sie dadurch noch stärker werden.

Das fand ich am Anfang ziemlich abstrakt. Immer wenn ein Rettungswagen aufs Klinikgelände kam, musste ich mir klarmachen: Der ist zwar jetzt da, aber der kommt nicht meinetwegen.

Sie haben versucht, die Angst zu korrigieren. Hilft Ihnen das?

Inzwischen gelingt mir das deutlich besser. In der Psychotherapie ist mir klar geworden, dass ich schon seit meiner Kindheit eine ziemlich grosse Angst vor Kontrollverlust habe, aber auch den starken Wunsch, endlich mal loslassen zu können.

Ist Ihnen das Loslassen gelungen?

Ich fühle mich etwas gelöster, aber weinen –, das konnte ich bislang noch nicht.

Weinen wäre eine Befreiung …

Ja, ich glaube schon.

Können Sie sich vorstellen, noch etwas dranzubleiben an dem Thema Angst vor Kontrollverlust?

Nächste Woche geht es ambulant weiter. Und das wird sicher ein zentrales Thema sein. Aber ein Anfang, glaube ich, ist schon gemacht.