Wir wollen nicht nur von Übergewicht reden, sondern auch vom krankhaften Wahn, schlank zu sein. Erklärungsversuche und schockierende Schicksale. Mädchen im Teenageralter hungern sich schlank, um ihren grossen Vorbildern in der Modewelt ähnlich zu sein. Woher stammt das herrschende Schönheitsideal? Schon im alten Rom boomte die Schönheitsindustrie. Blondes Haar wurde aus Germanien importiert. Gefragt war damals allerdings eine gesunde Fülle. Bis ins 20. Jahrhundert galten Frauen immer dann als schön, wenn sie etwas mehr Gewicht auf den Rippen trugen. Was unser Schönheitsempfinden prägt, ist ein Bild von Seltenheit und Begehrlichkeit. Aus diesem Bild heraus entstand das Bild schlanker Models. Die westliche Welt ist geprägt von Überfluss. Einen existentiellen Hunger gibt es in Europa kaum noch, vielmehr wird unser Schönheitsideal von Abstinenz geprägt – wir sehnen uns nach dem Widerstehen der Reize einer Überflussgesellschaft.
Models wie Kate Moss standen exemplarisch für das Abmagern bis auf die Knochen und Anorexie und Bulimie als Mittel zur Schönheit. Noch zur Mitte des 20. Jahrhunderts galt es durchaus medizinisch als anerkannt, sich schlank zu rauchen. In den 60ern, als die Werbeindustrie dank des Fernsehens einen weiten Schub erhielt, wurden viele Ideen zu Schönheit und Ästhetik überhaupt erst geboren. In Klums „Next Topmodel“-Show werden die Mädchen auf ihre Äusserlichkeiten reduziert und einem gnadenlosen Millionenpublikum vorgeführt. Oft noch minderjährig aus der Schule genommen, wähnen die Mädchen sich in einem Traum, dem sie mit krankhaftem Erfüllungswahn gerecht werden wollen. Dem Druck halten die Teenagerinnen dabei kaum stand, doch gerade diese Tortur ist perfides Programm. Das massenhafte Interesse an Castings und Vorauslese zeigt, dass die Entwicklung längst beim Mainstream der jungen Mädchen angekommen ist.
In den letzten Jahren gibt es endlich Gegenbewegungen. Kurvige Schönheiten stehen für einen neuen Trend. Das Bild des Hungerhakens wird immer öfter ersetzt durch das Bild der selbstbewussten, starken Frau, die zu ihrem Körper steht. Und es gibt ketzerische Gedanken. “Sind schwule Designer schuld am Magerwahn?“ fragt die „Welt“. Die Homosexualität der meisten sowohl männlichen als auch weiblichen Modeschöpfer ist nach Ansicht der Top-Designerin Anja Gockel der Hauptgrund dafür, dass viele Models extrem dünn sind. Alles Volumige sei für diese Designer unerotisch. Das Idealbild eines homosexuellen Mannes ist eine knabenhafte und das Idealbild einer lesbischen Frau eine androgyne Figur. Diese Figur würden sie auf die Frauen projizieren. Diese These hat etwas, sind doch grosse Designer wie Dolce & Gabbana, Gaultier, Jil Sander, Giorgio Armani und Karl Lagerfeld alle homosexuell.
Wie krankhaft es in der Modewelt zu und hergeht, beweist auch das Enthüllungsbuch von Kirstie Clements, Ex-Chefredaktorin der australischen „Vogue“. Die Modewelt ist die Hungerbranche schlechthin. Die Autorin schildert detailliert die Quälereien, denen sich die jungen Mädchen unterziehen. Tagelang nichts essen, in Saft getränkte Wattebäuschen schlucken. Auch Drogen und sexuelle Übergriffe seien an der Tagesordnung. Das Tschechische Topmodel Karolina Kurkova bestätigt den riesigen Druck, ultradünn zu sein. „Immer wieder wurde mir gesagt, ich sei nicht dünn genug. Für eine grosse Karriere reiche es nicht, wurde mir gesagt. Also nahm ich ab.“ Die Folgen waren verheerend. „Ich war 24 und plötzlich in der Menopause. Ich wusste nicht, was mit mir passiert. Vorher war ich immer eine gesunde Person.“
Die Liste der Models, die den Schlankheitswahn mit ihrem Leben bezahlt haben, ist lang. Ihr Schicksale erschütternd: Ana Carolina Reston Macan aus Brasilien. Sie stand für Armani, Ford, Elite und L’Equipe unter Vertrag. Mit 21 Jahren starb sie an den Folgen ihrer Magersucht. Bei einer Grösse von 174 wog sie zuletzt nur noch 40 Kilo. Das uruguayische Model Luisel Ramos ereilte zuvor das gleiche Schicksal. In Erinnerung bleiben auch die schockierenden Fotos von Isabelle Caro, die vor ihrem Tod im November 2010 auf 25 Kilo abgemagert war. Caro bekam Modelaufträge, allerdings erst, nachdem sie mit ihrer Magersucht in die Öffentlichkeit getreten war.
Wie geht die grösste People-Zeitschrift in der Schweiz mit diesem Thema um? „Wir arbeite jeden Tag mit Bildern von Models, Promis, Stars und Sternchen und ganz normalen Frauen“, sagt Silvan Grütter, Unterhaltungschef der Schweizer Illustrierten. „Und da beginnt das Problem. Ganz normale Frauen vergleichen sich mit Models und vergessen, dass sie diesem Vergleich unmöglich Stand halten können. Erstens sind Models in der Regel unter 20 Jahre alt, und zweitens gehört es zu ihrem Beruf, sich mit ihrer Figur zu befassen.“ Models würden ähnlich viel Zeit und Energie für ihren Körper aufwenden wie Bodybuilder. „Beide Körper entsprechen nicht der Normalität.“
Silvan Grütter achtet in seinem Job darauf, dass diesem Körperkult nicht zu viel Gewicht beigemessen wird. „Weder preisen wir die vermeintlich schönen Körper an noch spötteln wir über Problemzonen von Promis. Es ist absurd, wenn man einer 40-jährigen Frau vorwirft, dass sie etwas Speck am Bauch hat. Es ist ebenso absurd, eine Frau zu loben, nur weil sie schon zwei Wochen nach einer Geburt wieder eine Traumfigur hat.“ Das Fazit des SI-Unterhaltungschefs: „Wichtiger als ein perfekter Körper ist ein gesunder Körper. Und eine gesunde Einstellung.“