Zeit zu gehen

Zeit zu gehen

Nach jedem Besuch im Pflegeheim fühlte sie sich schlecht. Ganz im Stillen flossen ihre Tränen, wenn sie sich von ihrem Fritz an der Tür verabschiedet hatte. 58 Jahre waren sie ein Paar gewesen, sind durch dick und dünn gegangen. Hatten immer alles miteinander besprochen. Doch jetzt wusste Erika nicht mehr, ob Fritz ihre Worte wirklich verstand.

«Etwa zehn Jahre nach seiner Pensionierung merkte ich, dass sein Gedächtnis schwächer wurde. Oft verabredete er zwei Termine zur gleichen Zeit, und ich musste dann die Vergessenen besänftigen. Nein, Alzheimer hatte er nicht, aber eine andere Art von Demenz. Ich konnte ihn gut alleine zu Hause lassen, weggelaufen ist er nie. Er bekam von mir kleine Aufgaben. Ich schrieb sie ihm sogar auf einen Notizblock, doch mit der Zeit gaben für ihn die Sätze keinen Sinn mehr. Eines Tages sagte er mir, unser Keller sei ja gar nicht mehr am gleichen Ort. Mehr und mehr vermischte er Dinge von jetzt mit Sachen von früher. Fritz fand sich nicht mehr zurecht.»

Es lag Spannung in der Luft

Der Mann, der als gelernter Feinmechaniker und nach einer Zweitausbildung als Primarlehrer und Werklehrer so viel wusste und eine natürliche Autorität ausgestrahlt hatte, wurde plötzlich hilflos. «Das war für mich nicht einfach. Mir fehlte oft die Geduld. Wenn er schon wieder die Kaffeetasse über dem Teppich ausgeschüttet hatte. Das Aufwischen bereitete mir Mühe. Schon lange hatte ich mit Rücken, Hüften und Kniegelenken zu kämpfen. Nicht nur solche Missgeschicke überforderten mich. Ich musste auch all jene Dinge tun, die Fritz früher immer erledigt hatte. Es lag Spannung in der Luft. Ich dachte: Gopffriedli, wenn das so weitergeht, haben wir nur noch Streit. Selbst meine erwachsenen Söhne merkten, dass wir etwas ändern müssen.»

Wir wären aneinander zerbrochen

«Damit ich mich erholen konnte, brachten wir Fritz vorübergehend ins Heim. Aus geplanten drei Wochen wurden ein Jahr und drei Monate. Wenn er zwischendurch realisierte, wo er war und dass er nicht mehr richtig denken konnte, hatte er Tränen in den Augen. Nach Hause wollte er, immer nach Hause. Genau das machte mir am meisten zu schaffen. Vom Gefühl her hätte ich ihn am liebsten mitgenommen, doch die Vernunft sagte nein. So oft ich ihm die Situation auch erklärte, so oft musste ich erkennen, dass meine Botschaften nicht mehr ankamen. Früher haben wir uns über jede Anschaffung, jedes Projekt und jedes Thema vorgängig unterhalten. Wir sprachen auch über den Tod und den Friedhof. Über unseren Friedhof, der am Hang liegt, den man schlecht erreichen kann, wenn man nicht mehr gut zu Fuss ist. Wenn wir dann eines Tages dort oben liegen, würden wir halt nicht so viele Besuche haben. Über solche Dinge redeten wir. Und jetzt verstand er nicht einmal mehr, dass ich einen Moment Erholung brauche. Wie lange würde ein Moment dauern? Dass er nur noch besuchsweise nach Hause zurückkommen würde, war kein gemeinsamer Entscheid. Es passierte einfach so. Zu weit war seine Demenz fortgeschritten, und sie schritt weiter voran. Ich litt sehr. Nach jedem Besuch fühlte ich mich schuldig. Doch so sehr ich ihn mir nach Hause gewünscht hätte: Meine Angst davor war zu gross. In seinem Zustand wären wir aneinander zerbrochen. Es ging einfach nicht mehr. Ich habe viel geweint und tröstete mich, dass er im Innern schon wisse, wie weh es mir tut. Familie und Freunde halfen und helfen mir durch die schwere Zeit.»

Wir haben gemeinsam gebetet

Erika hat vor wenigen Wochen ein Zimmer im Pflegeheim bezogen. «Den Haushalt schaffe ich mit meinem Rücken nicht mehr», sagt sie. Auf dem Tisch steht das Foto von Fritz, ein Blümchen daneben. «Manchmal rede ich mit ihm. Ich sage ihm, dass ich in Gedanken immer bei ihm bin und dass ich ihn vermisse. Vor eineinhalb Jahren ist er von uns gegangen. Wegen innerer Blutungen kam er vom Heim direkt ins Spital. Wir wussten, dass es zu Ende geht. Die Blutkonserven versickerten in seinem Körper. Zeit zu gehen. Zeit, Abschied zu nehmen. Unsere Söhne und ich waren am Sterbebett. Als mein älterer Sohn meinte, Fritz wolle beten. Ich war überrascht. Wir sind gläubig, aber gemeinsam gebetet haben wir nie. Fritz lag ganz ruhig da, sah mich an und schien zu nicken, als ich ihm das Gebet anbot. ‘Unser Vater im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe…’ Er drehte den Kopf nach rechts und schaute noch einmal aus dem Fenster. Als ich ‘Amen’ gesagt hatte, war Fritz bereits gegangen. Nach Hause. Für immer.»