Zuerst war ich unheimlich skeptisch

Spastik. Dieser Zustand bereitet unzähligen MS-Patienten Tag und Nacht starke Schmerzen und schränkt ihren Alltag massiv ein. Doch es gibt Abhilfe. Ein Fallbericht.

MS Cannabis

Mein Name ist Manuela Herrmann. Geboren bin ich am 3. Juni 1962 in Basel und meine MS ist wohl genauso alt. Ich war immer ein bisschen tollpatschig. Neurologisch zwar auffällig, aber ohne eine klare Diagnose. Ich hatte unerklärlich viele Schmerzen, die auf kein Schmerzmedikament angesprochen haben. Dann endlich mit fast 40 Jahren die Diagnose MS. Ein Schock und zugleich eine Erleichterung. Endlich hatte mein Gespenst einen Namen. Die üblichen Medikamente kamen nicht mehr in Frage. Die MS war bereits progredient und ohne erkennbare Schübe.

Als mein Leidensdruck immer stärker wurde und Magnesium und Co. die Krämpfe nicht besserten, schlug mein mich bestens betreuender Neurologe Dr. med. Andreas Baumann vor, wir sollten es mit Medizinalcannabis versuchen. Zuerst war ich sehr skeptisch. Nachdem ich weitere Tage und Nächte von der Spastik geplagt wurde, entschied ich, mich doch auf diesen Vorschlag einzulassen. Wir begannen mit einer niedrigen Dosis und erhöhten sie ganz allmählich, bis der gewünschte Effekt da war.

Mittlerweile kann ich mir mein Leben ohne dieses Medikament nicht mehr vorstellen. Es gibt Tage, da brauche ich weniger und andere, an denen ich wieder mehr nehmen muss. Es ist ein grossartiges Medikament, das mir hilft, meinen ohnehin von Einschränkungen und Schmerzen geprägten Alltag besser zu meistern. Nachts kann ich auch viel besser schlafen und bin tagsüber weniger müde. So nach und nach lerne ich, mit meinem Medikament zusammen besser auf meinen Körper zu hören. Sogar die Spastik meiner zickigen Blase hat sich verbessert. Für mich mit meiner enormen Medikamenten-Überempfindlichkeit ist es toll, mit Medizinalcannabis ein Mittel zu haben, das ich selbst nach Bedarf einnehmen kann – in Eigenverantwortung für meine MS und mich.

Der Leidensdruck ist enorm

Starke Schmerzen, Muskelkrämpfe, Schlaflosigkeit. Dr. Andreas Baumann vom Neurozentrum Ober­aargau sagt, wie Medizinalcannabis hilft.

Wie viele Ihrer MS-Patienten leiden unter Spastik und was heisst das konkret?

Spastik bedeutet, dass die Muskulatur sich nicht entspannen kann. Das kann zu Schmerzen führen, nächtlichen Muskelkrämpfen und dadurch auch zu Müdigkeit. Die Spastik kann so stark sein, dass sich die Muskeln über längere Zeit schmerzhaft verkrampfen und dann funktionslos werden. Nach meiner Erfahrung hat etwa jeder vierte Patient mit MS solche Beschwerden.

Wie wirkt sich das aus?

Im Alltag kann es zu starken Schmerzen in der Muskulatur kommen. In der Nacht zu Schlaflosigkeit, bedingt durch die schmerzhafte Muskulatur. Für viele ist das eine extrem belastende Situation.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Für Spastik, die mehrere Muskeln betrifft, werden zuerst Medikamente eingesetzt, welche das Nervensystem entspannen. Diese Medikamente machen aber oft auch müde. Für Spastik, die fokal einzelne Muskeln betrifft, kann man Botulinum in die Muskeln injizieren und damit die Spastik überwinden. Botulinum ist aber nur dann eine Option, wenn wenige Muskeln betroffen sind. Helfen Medikamente nicht oder haben die Patienten vor allem auch Schmerzen, gibt es Arzneimittel auf Basis von zwei verschiedenen Cannabinoiden.

Wie gut wirkt Cannabis gegen Spastik mit all ihren Begleiterscheinungen?

Medizinalcannabis ist eine sehr gute Option bei spastischen Schmerzen bei der Multiplen Sklerose und auch bei muskulären Verkrampfungen. Sie können die Lebensqualität von Betroffenen deutlich steigern.

Verändert Cannabis nicht die Psyche und macht abhängig?

Ich stelle eine Gegenfrage: Wenn jemand einen Bluthochdruck hat und einen normalen Blutdruck haben sollte, ist er dann abhängig von Blutdruckmedikamenten? Paradoxerweise wird die Frage bei Cannabis immer wieder gestellt. Zugelassene Arzneimittel auf Cannabisbasis sind hochwirksame Medikamente. Wenn Betroffene ein solches Arzneimittel einnehmen, um schmerzhafte Symptome zu behandeln, kann man nicht von einer Abhängigkeit sprechen. Zudem fokussiert das Medikament explizit auf die Schmerzen und die Spastik und führt kaum zu Veränderungen der Sinneswahrnehmung. Entsprechend empfehlen wir Ärzte, die zugelassenen medizinischen Präparate einzusetzen und nicht im häuslichen Garten Cannabis zu züchten.

Migräne
Dr. Andreas Baumann, Neurozentrum Oberaargau

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 21.01.2021.

Kommentare sind geschlossen.