Ist es normal, wenn sich ein Mann vorstellt, dass die Sekretärin nackt im Büro auf ihn wartet? Warum fantasieren Frauen und Männer von einem Quickie mit einer fremden Person im Lift? Und was geht in einer Frau vor, die sich ausmalt, von einem Unbekannten auf offener Strasse zu Sex verführt zu werden? Dania Schiftan, Sex-Therapeutin mit eigener Praxis in Zürich: «Solche Fantasien sind völlig normal. Viele Menschen malen sich Dinge aus, die in ihrer Vorstellung unglaublich reizvoll sind. Aber Achtung: Fantasien sind keine versteckten Wünsche. Fantasien müssen deshalb auch nicht ausgelebt werden. Sie sind meist Mittel zum Zweck, um beim Sex die eigene Lust zu steigern. Wer schon einmal die geile Fantasie eines flotten Dreiers ausgelebt hat, wird gemerkt haben, dass Fantasie und Realität manchmal weit auseinanderklaffen, weil in der Realität Gefühle von Eifersucht und Unbehagen auftreten können. Findet man es wirklich geil, wenn der Kollege mit der eigenen Frau Geschlechtsverkehr hat. Erträgt man es, wenn es der Gattin sogar noch Spass macht? Die meisten können damit nicht umgehen. Die Vorstellung ist eben nur eine Vorstellung. Was in der Fantasie anregend sein mag, ist in der Realität auf einmal ganz anders.»
Alles ist möglich
Bergen sexuelle Fantasien also auch Gefahren? «Ja und nein. Wenn man meint, man müsse alle seine Fantasien ausleben, könnte es schon negativ herauskommen. Fantasien sind nicht nur dazu da, umgesetzt zu werden. Wer seine Fantasien ausleben möchte, muss das mit dem Partner vorher besprechen. Man darf durchaus in der Realität einen Versuch wagen, aber nicht enttäuscht sein, wenn es dann gar nicht so toll ist.»
Fantasien haben den Vorteil, dass ihnen keine Grenzen gesetzt sind. Niemand verlangt Rechenschaft. In der Fantasie ist alles möglich. Dania Schiftan: «Genau. Heterosexuelle Männer stellen sich vor, wie sie von einem anderen Mann befriedigt werden. Oder sie denken daran, einem anderen Pärchen beim Sex zuzuschauen. Ich werde immer wieder gefragt, ob solche Fantasien schon mit Fremdgehen zu tun haben. ‹Nein!›, sage ich dann, ‹alles okay›. Es muss einen nicht beunruhigen, dass lustvolle Gedanken mit fremden Menschen zu tun haben. In den seltensten Fällen kommt der eigene Partner darin vor. Auch die gedankliche Lust auf gleichgeschlechtlichen Sex ist durchaus normal. Solche Fantasien können auch zeigen, dass man sich mit seiner eigenen Männlichkeit auseinandersetzt. Fantasien sind kein Zeugnis von Unzufriedenheit mit dem Ehepartner oder der mit ihm gelebten Sexualität. Fantasien sind einfach da, ohne dass wir sie uns zurechtlegen.»
Es gibt unterschiedliche Arten von Fantasien. «Eine findet mitten im Alltag als Tagtraum statt. Eine andere kommt während der Selbstbefriedigung zum Zug. Sie ändert sich kurz vor dem Orgasmus. Zu Beginn ist sie vielleicht sanft und romantisch, geprägt von Gedanken an schöne, harmonische Momente. Für den Höhepunkt genügt sie nicht mehr. Jetzt braucht es eine härtere Gangart, nämlich starke Worte oder die Vorstellung, hart drangenommen zu werden. Nach der Befriedigung sollte man sich für seine Fantasien weder schämen noch sich schuldig fühlen. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Schuldgefühle haben in der Sexualität nichts verloren, weder bei der Selbstbefriedigung noch beim partnerschaftlichen Sex.»
Fantasien entstehen im Körper
Wie entstehen Fantasien? Dania Schiftan: «Durch das, was man bisher praktiziert hat. Zur grossen Überraschung entstehen sie nicht im Hirn, sondern im Körper. Fantasien haben immer mit dem zu tun, was der Körper erlebt hat.» Wie muss man das verstehen? «Am besten stellt man sich einen Baumstamm vor, der jedes Jahr um einen Ring in die Breite wächst. Je offener, freier, vielfältiger und lustvoller die Sexualität praktiziert wird, desto breiter werden die Ringe und desto breiter wird der Stamm. Wer demgegenüber in der Erziehung wiederholt gehört hat, Sexualität sei etwas Schlechtes, wird vermutlich auch wenig Lustvolles an seinem Körper entdeckt haben. Er oder sie praktizierten vielleicht eine verschämte Selbstbefriedigung, die nicht nur sehr schnell, sondern auch unter grosser Spannung und nur rudimentär abgelaufen ist. So was macht man schliesslich nicht, wurde ihnen eingetrichtert. Häufig entwickeln Betroffene nur schmale Jahresringe und einen schmalen Stamm. Auf einem schmalen Stamm gedeihen aber keine reichhaltigen Äste, wachsen keine grossen Blätter und reifen keine süssen Früchte, die in unserem Beispiel Gefühle, Fantasien und lustvolle Erlebnisse beschreiben.
Menschen mit einem schmalen Stamm sind zudem eher störanfällig. Sie haben vielleicht gelernt, sich unter Druck und Anspannung selbst zu befriedigen. Entsprechend spannungsvoll sind auch ihre Fantasien. Eine betroffene Frau stellt sich womöglich eine Vergewaltigung vor, um zum Orgasmus zu kommen. Ein betroffener Mann fantasiert von hartem und krassem Sex. Alles geht vom Körper aus. Embodyment nennt sich das.»
Mit Musse und Genuss zum Orgasmus
Was bedeutet das nun? Dania Schiftan: «Es bedeutet, dass man nicht seinen Kopf, sondern seinen Körper umprogrammieren muss, wenn man die Fantasien verändern will. Man kann bei der Selbstbefriedigung ansetzen und sie so verändern, dass man ohne Spannung, aber mit Musse und Genuss zum Orgasmus kommt. Zum Beispiel indem man ganz sanft seinen eigenen Körper liebevoll mit Öl einreibt oder einfach neue Körperregionen berührt. Mit der Zeit wird sich die Fantasie anpassen. Das geht aber nur mit üben, üben und nochmals üben.» Braucht es dann noch Fantasien? «Unbedingt! Fantasien sind ein gutes und wichtiges Tool. Sie bieten Chancen. Sie machen die ganze Welt farbiger. Es lohnt sich, mit seinen Fantasien glücklich zu werden und damit zu spielen. Was gibt es Schöneres, als auch in der Sexualität zu denken, was man will.»
Kontakt
Dania Schiftan ist Psychotherapeutin und klinische Sexologin. www.daniaschiftan.ch