Das ist doch nur psychisch!?

Stressed business woman working from home on laptop looking worr Bild: AdobeStock, Urheber: nenetus

Ein gebrochenes Bein schmerzt, das ist allen klar. Wie steht es mit dem Einfluss der Psyche?

Im Zusammenhang mit körperlichen Schmerzen wird sie unterschätzt. Die Psyche ist für viele zu wenig greifbar. Für die meisten Menschen ist es nachvollziehbarer, wenn sie wegen eines Bandscheibenvorfalls Rückenschmerzen haben als aufgrund von chronischem Stress und ungünstigen Prägungen in der Kindheit.

Dann kann ich Rückenweh haben, weil ich als Kind ­vernachlässigt wurde?

Ja. Man darf die Psyche nicht als etwas vom Körper Losgelöstes verstehen. Stresserfahrungen regen im Gehirn Stoffwechselvorgänge an. Dadurch kommen bestimmte Areale ins Ungleichgewicht und können so das Schmerzerleben beeinflussen oder selber generieren.

Dann lösen bestimmte Lebenserfahrungen oder Situationen Schmerz aus?

Genau. Wichtig ist, dass man zwischen akuten und chronischen Schmerzen unterscheidet. Beide Versionen haben eine Warnfunktion, und man muss den Grund dafür herausfinden. Habe ich Bauchweh, weil ich etwas Falsches gegessen habe? Oder leide ich regelmässig daran ohne erkennbaren Grund? Zweiteres kommt viel häufiger vor als angenommen.

Gibt es dazu Zahlen?

In der Schweiz leiden 16 bis 18 Prozent der Bevölkerung unter chronischen Schmerzen. Bei mehr als der Hälfte ist er psychisch bedingt. Das ist eine enorm hohe Zahl. Natürlich spielen immer verschiedene Faktoren eine Rolle. Hauptauslöser ist aber Stress. Auch da unterscheiden wir zwischen akutem und chronischem.

Können Sie das genauer erklären?

Zuerst einmal: Akuter Stress ist nichts Schlimmes. Wir brauchen einen Körper, der darauf reagieren kann. Stress kann als Schutzfunktion dienen und die Leistungsfähigkeit vorübergehend sogar erhöhen. Aber er kann eben auch dysfunktional wirken und, wie bereits erwähnt, die Schmerzwahrnehmung im Gehirn auslösen oder verstärken. Chronischer Stress baut sich über eine längere Zeit auf und hat seinen Ursprung oft in der Kindheit oder Jugend. Man kann sich seine Entstehung folgendermassen vorstellen: Wenn man erschrickt, zuckt man zusammen. Unter bestimmten Bedingungen entwickelt man aber eine Schutz- und Abwehrhaltung und befindet sich deshalb dauerhaft in diesem Zustand.

Sie sprechen immer wieder die Kindheit an. Warum?

Weil wir in diesem Alter viele Erfahrungen machen, die unser Gehirn prägen. Das muss nicht immer etwas Hochdramatisches sein. Beispielsweise ist emotionale Vernachlässigung in der Kindheit ein schleichender Prozess, der aber dazu führt, dass wir unsere Gefühle auch im Erwachsenenalter nicht gut wahrnehmen können. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer chronischen Schmerzstörung deutlich erhöht.

Es muss aber nicht, oder?

Nein. Wie gesagt, spielen viele Faktoren eine Rolle. Zum Beispiel die aktuelle Lebenssituation oder auch Charaktereigenschaften wie eine ausgeprägte Neigung zur Perfektion. Daraus ergibt sich häufig eine Überforderung. Oder wenn man permanent Angst hat, immer auf der Hut und besonders vorsichtig ist. Insgesamt gehen wir von einem bio-psycho-sozialen Ansatz aus.

Dann sind Sie für viele die letzte Hoffnung?

Ja, leider. Oft haben unsere Patienten und Patientinnen eine regelrechte Odyssee von Arzt zu Arzt hinter sich. Wenn nichts mehr wirkt, werden Opiate verschrieben. Das sind die stärksten Schmerzmittel, die wir überhaupt haben. Das bringt bei stressbedingtem Schmerz aber nichts. Spätestens ab dann sollte man hellhörig werden und sich fragen, was ist eigentlich die Ursache für mein Leiden?

Welche anderen Hinweise gibt es?

Es lohnt sich bei Schmerzen immer nachzufragen: Wie geht es mir denn sonst so? Manche Umstände wie eine Scheidung oder finanzielle Verluste können sprichwörtlich wehtun und das Stress-Erleben erheblich steigern.

Was macht eine gute Schmerztherapie aus?

Das ist ein sehr weites Feld und kann nicht pauschal beantwortet werden. Man unterscheidet drei verschiedene Ursachen für den Schmerz: Gewebeschädigung, Nervenschädigung oder Stress. Alle Bereiche haben verschiedene Therapiearten. Vor der Behandlung ist eines immer wichtig: die richtige Diagnostik. Was sind die Ursachen? Für eine Behandlung stressbedingter Schmerzstörungen sind Schmerzmittel ungeeignet. Wir finden heraus, welche Erlebnisse und Verhaltensmuster zu den Schmerzen führten und welche Methoden aus der Psychotherapie helfen.

Weitere Infos: www.sanatorium-kilchberg.ch

Sanatorium Kilchberg
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8802 Kilchberg
Telefon 044 716 42 42

Christian Seeher, Stellvertretender Chefarzt für Privat-, Spezialstationen und Ambulatorien am Sanatorium Kilchberg.