Süchtig nach Kratzen

Bild: AdobeStock woman scratching her itchy back with allergy rash|Prurigo Simon Mueller

Juckreiz ist ein Alarmsymptom der Natur, um auf mögliche Gefahren auf der Haut wie z. B. Parasiten aufmerksam zu machen. Dieser Alarm kann aber auch durch zahlreiche medizinische Situationen aktiviert werden. Dauert der Juckreiz mehr als sechs Wochen, kann sich das Kratzen verselbständigen und aufgrund des angenehmen, erleichternden Gefühls einen gewissen Suchtcharakter bekommen. Da die Haut durch das Kratzen entzündet wird, juckt es noch mehr.

Ältere Menschen sind besonders betroffen

Dieser Teufelskreis kann zu knötchenförmigen Hautveränderungen, der sogenannten Prurigo nodularis führen. Durch unablässiges Kratzen entstehen Knoten, die bluten, verkrusten, nässen oder vernarben. Sie bieten auch die Gefahr einer Eintrittspforte für Krankheitserreger, die zu Hautinfektionen führen können. Gesicht, Hand- und Fusssohlen sind in der Regel nicht betroffen und für das Kratzen schlecht zugängliche Körperstellen bleiben ausgespart. Meist haben die Patienten und Patientinnen eine jahrelange Leidenszeit hinter sich, da die Krankheit lange nicht erkannt wird oder oft keine befriedigende Therapie erzielt werden kann. «50 bis 100 Betroffene auf 100 000 Menschen leiden an Prurigo nodularis. Das ist in der Grössenordnung von Multiple Sklerose oder Morbus Crohn, also Krankheiten, die in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich präsenter sind», erklärt PD Dr. Simon Müller vom Universitätsspital Basel. Betroffen sind meistens Menschen im letzten Drittel des Lebens. «Wir sehen aber durchaus auch jüngere Patienten», ergänzt der Dermatologe.

Grunderkrankung erkennen und behandeln

In der Regel liegt der Prurigo nodularis eine Haut- und/oder eine Grunderkrankung zugrunde. «Oftmals bestehen eine atopische Dermatitis, ein Leber- oder Nierenproblem, Diabetes oder eine psychische Belastung, seltener andere immunologische Hautkrankheiten, Schilddrüsenprobleme oder hämatologische Erkrankungen. Wenn die Grunderkrankung gelindert oder geheilt wird, bessert sich in der Regel auch die Haut», sagt PD Dr. Simon Müller. Grunderkrankungen zu behandeln, ist das erste Ziel. Oftmals lassen sich diese aber nur bedingt optimieren, sodass die Prurigo nodularis nicht geheilt werden kann.

Prurigo Simon Mueller
PD Dr. Simon Müller vom Universitätsspital Basel.

Kratzen wirkt wie eine Belohnung

Entscheidend ist es, den Zwang zum Kratzen durch eine Schulung in den Griff zu bekommen. «Wie Studien gezeigt haben, werden beim Kratzen im Gehirn Belohnungsareale aktiviert. Das ist, wie wenn man ein Stück Schokolade isst. Man spricht auch von ‹pleasureability of scratching›. Die Leute werden mit der Zeit wie süchtig nach Kratzen, und es fehlt ihnen etwas, wenn sie es nicht mehr tun sollen», erklärt der Dermatologe. Betroffene brauchen Tipps, wie man sich kratzt, ohne die Haut zu verletzen. So kann es zum Beispiel helfen, Nägel ganz kurz zu schneiden oder die juckende Stelle leicht zu kneifen. Hilfreich ist auch, bei Kratzzwang Fäuste zu machen und auf 30 zu zählen oder einen Gegenstand fest zu drücken. Mit viel Geduld kann es so gelingen, den Juck-Kratz-Teufelskreis zu durchbrechen. Schützende Bandagen und entzündungshemmende Mittel wie Cortisonsalben, Lichttherapie oder Immunsuppressiva in Tabletten- oder Spritzenform sind weitere Massnahmen. «Diese Therapieformen wirken aber relativ unspezifisch und sind eigentlich für andere Krankheiten zugelassen.»

Seit Neustem gibt es einen monoklonalen Antikörper, der für die Therapie der Prurigo nodularis zugelassen wurde. «Ein weiterer Wirkstoff dürfte in den nächsten Jahren in der Schweiz erhältlich sein. Mit diesen neuen Therapiemöglichkeiten befinden wir uns erstmals an einem Wendepunkt, der die Therapie der Prurigo nodularis wesentlich verbessern dürfte», so der Experte.