Zum ersten Mal Hoffnung

SMA Lieberherr 4684 Roger Lieberherr kann nicht mehr stehen und gehen. Umso wichtiger ist, dass er die Kraft in seinen Armen und Händen erhalten kann.

Kaum zu glauben, dass Roger Lieberherr, 28, aus Uttwil TG einmal mit seinen Gspänli im Heustock herumtollen konnte. Aufgedreht, munter, voller Bewegungsdrang. Auf dem Bauernhof seiner Eltern gab es viel zu erleben. «Mir machte es nichts aus, dass die anderen Kinder schneller und agiler waren. Ich hatte einfach zu wenig Kraft und kam in der Scheune nicht recht auf die Heuballen hinauf. Meine Eltern merkten früh, dass etwas nicht stimmte. Schon als Baby machte ich nicht die gleichen Fortschritte wie die anderen. Kriechen ging, doch zu laufen fing ich spät an, und auch das konnte ich nie so richtig gut. In der Schule war ich körperlich gesehen immer der Letzte, wenigstens lief ich am Anfang noch aus eigener Kraft.»

Diagnose, aber ohne Plan

Was das für eine Krankheit ist, fand man erst im Kinderspital heraus. Spinale Muskelatrophie SMA, Typ 3. Eine Biopsie im Oberschenkel lieferte den letzten Beweis. «Meine Kraft würde mit den Jahren weiter abnehmen. Die Lebenserwartung sei aber nicht verkürzt. Da standen wir nun. Mit Diagnose, aber ohne Plan. Auch die Ärzte hatten kein Rezept, eine medikamentöse Therapie gab es nicht. Informationen zum Umgang mit der Krankheit existierten kaum. Ich solle mich einfach viel bewegen, um die Muskeln so lange wie möglich zu erhalten, hatte es geheissen. So ging meine Mutter mit mir in die Physiotherapie. Auch Hippotherapie durfte ich machen. Doch am meisten Bewegung und Training bekam ich zu Hause auf dem Bauernhof. Am Anfang nutzte ich jede freie Minute, um Arbeiten auf dem Hof zu erledigen. Während eines Feldjahres kamen rund 200 Stunden zusammen.»

Rollstuhl war Erlösung

Ab der 3. Primarklasse wurde es deutlich schlechter. «Die ersten zwei Schuljahre konnte ich noch Treppen steigen. Mit der Zeit wurde jede Stufe zum unüberwindbaren Hindernis. Die Laufdistanz verkürzte sich. Ich stürzte oft, verletzte mich. Wenn mich unser Hund freudvoll begrüsste, kippte ich nach hinten um. Für den Schulweg organisierte mir mein Vater ein Elektrofahrzeug, das aber im Schnee stecken blieb. Später bekam ich einen Wagen, den man normalerweise auf dem Golfplatz benutzt. Bald schon konnten meine Beine keinen Schritt mehr tun. Der Rollstuhl war eine Erlösung.»

Büro statt Bauernhof

Die Übernahme des elterlichen Hofes war für Roger wegen der Krankheit keine Option. «Ich entschied mich für eine KV-Lehre, weil mir das die meisten Möglichkeiten eröffnete. Meine Krankheit konnte ich gut akzeptieren, doch es war nicht einfach für mich, eine Lehrstelle zu finden. Manchmal hadere ich mit der Situation, denke, wie schön es gewesen wäre, Landwirt zu sein. Heute arbeite ich in der Administration einer anthroposophischen Institution für Menschen mit einer Beeinträchtigung. Es ist ein cooler Job, weil ich mit Menschen zu tun habe, die ich ganz genau verstehe.»

Mobil dank Auto

Roger Lieberherr lebt mit seiner Freundin in einer Parterrewohnung. «Früher waren meine Eltern zur Stelle. Jetzt habe ich zweimal am Tag eine Spitex-Hilfe fürs Aufstehen, fürs Duschen und fürs Ankleiden. Am Anfang empfand ich Scham, doch irgendwann geht es nicht mehr um Befindlichkeiten, sondern allein um die Sache selbst. Mobil bin ich dank einem umgebauten Auto. Dann habe ich noch ein Elektrofahrzeug für die nähere Umgebung. Auf dieses kann ich mit dem Rollstuhl hinten auffahren. Das ist wie ein Töff, der aber auf 25 km/h beschränkt ist.»

Mehr Kraft in Armen und Beinen

Vor zwei Jahren kam ganz unerwartet Bewegung ins Leben von Roger Lieberherr. «Im Muskelzentrum des Kantonsspitals St. Gallen traf ich erstmals auf einen Arzt, der Erfahrung mit anderen SMA-Patienten hat. Über ihn bekam ich auch Zugang zu einem ganz neuen Medikament, das mir seither in regelmässigen Abständen in die Wirbelsäule gespritzt wird. Sehr schnell merkte ich, wie es die Krankheit stabilisiert, ihr Fortschreiten bremst. Nach jeder Spritze spüre ich einen schönen Effekt. Ich kann zwar nicht mehr laufen und auch nicht selbständig stehen. Ich habe aber wieder mehr Kraft in den Armen und Beinen, und ich freue mich immer auf die nächste Injektion. Die neue Therapie hat etwas in mir ausgelöst. Ich bin von Hoffnung getragen und habe begonnen, meine ganze Leidensgeschichte zu verarbeiten. Mit der Patientenorganisation SMA Schweiz habe ich zudem eine neue Plattform gefunden, auf der ich mich mit anderen Betroffenen austauschen kann. Auch das ist eine grosse Hilfe.»

Spinale Muskelatrophie SMA

SMA ist eine seltene, fortschreitende neuromuskuläre Erkrankung, die sich durch ein breites Spektrum an Ausprägungen bei Kindern und Erwachsenen auszeichnet. Sie bewirkt einen fortschreitenden Verlust von Motoneuronen und in der Folge Muskelschwund, was schliesslich zum Verlust der Atemmuskulatur und zum Tod führt. Die Symptome sind von Mensch zu Mensch verschieden. SMA kann alltägliche Aktivitäten wie Atmen, Essen, Umarmen, Greifen, Nicken, Sitzen und Gehen beeinträchtigen.

SMA Schweiz ist die Schweizerische Patientenorganisation für Spinale Muskelatrophie SMA. Sie setzt sich dafür ein, dass Therapien für Betroffene möglichst schnell vom Labor zum Patienten gelangen. Hierzu arbeitet SMA Schweiz national und international mit allen Interessensgruppen eng zusammen und vertritt die Anliegen der Betroffenen.

www.sma-schweiz.ch

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