Er ist ein gebrochener Mensch

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Eine verzweifelte Leserin schreibt uns, weil sie das Verhalten ihres Mannes kaum noch versteht und befürchtet, es könnte Alzheimer sein.

„Mein Mann ist 79. Seit einem Jahr bemerke ich bei ihm eine grosse Veränderung. Er ist sehr verwirrt, abnormal vergesslich und ringt nach Worten. Er hat auch grosse Mühe beim Laufen. Ich sprach mit unserem Hausarzt. Er sagte, man müsse verschiedene Untersuchungen machen. Da ich das meinem Mann ersparen wollte, winkte ich ab. Mein Mann realisierte das alles nicht, und es war tragbar und wir kamen über die Runden. Mal waren die Symptome stärker, mal weniger. Ab und zu ging er auch noch Velo fahren. Früher ist er bis zu 15‘000 Km im Jahr gefahren. Im Winter war er ein Top Langläufer. Letzten Winter konnte er nicht mehr allein die Ski anziehen, und nach einer Stunde gemütlichem Laufen war er todmüde.

Vor drei Wochen war er wieder einmal mit dem Rennrad unterwegs. Es mahnte mich an eine Trotzreaktion. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich ihn gehen liess. Leider kam er nicht zur abgemachten Zeit nach Hause. Wir haben alles unternommen, um ihn zu suchen und haben eine Vermisstmeldung aufgegeben. Nach acht Stunden Irrfahrt ohne Essen und Trinken kam er von sich aus total erschöpft nach Hause. Er hat den Nachhauseweg nicht mehr gefunden. Er hat sich bis heute noch nicht davon erholt.

Unser Hausarzt veranlasste ein MRI, weil er Anzeichen eines Schlägli hatte, aber nichts Derartiges gefunden wurde. Er tut sich aber immer noch sehr schwer beim Laufen, und alles ist schlechter geworden. Er ist sehr depressiv und weint sehr viel. Er ist ein gebrochener Mensch.

Der Hausarzt hat ihn bei einem Neurologen angemeldet. Ich habe Angst, dass mein Mann bei einer negativen Diagnose in ein Loch fällt und keinen Sinn mehr im Leben sieht. Wie weit kann man bei einer Demenz helfen?

Gibt es Medikamente für eine vorübergehende Besserung? Schon für eine kurze Zeit wären wir dankbar. Was würden Sie uns raten? Manchmal habe ich das Gefühl, dass es mein Mann nicht realisiert, was dahinter steckt, obwohl es ihm sehr schlecht geht. “

 

Das ist die Antwort von Frau Dr. Irene Bopp-Kistler, leitende Ärztin Memory-Klinik Stadtspital Waid, Zürich.

Liebe Leserin

Ich entnehme aus Ihren Worten, dass die Situation für Sie, aber auch für Ihren Ehemann, eine ganz grosse Herausforderung ist. Bis anhin wissen Sie nicht, an welcher Krankheit Ihr Mann leidet. Das macht die Situation noch schwieriger. Sie denken sicher an eine Demenzerkrankung. Doch bis anhin haben Sie es nicht gewagt, Ihren Mann damit zu konfrontieren. Meine Erfahrung zeigt, dass die Menschen oft viel stärker an dem Unausgesprochenen leiden als an der Diagnose. Nicht die Diagnoseübermittlung löst eine Depression aus, sondern die Krankheit mit allem so Unklaren. Ich bin sicher, dass auch Ihr Mann eine Veränderung spürt, nur spricht er nicht darüber. Er versucht, wie so viele Demenzerkrankte, seine Symptome zu verstecken und sucht weiter Bestätigung in den Tätigkeiten, die er kennt und in denen er stark ist. Dennoch ist er mit grossen Verlusterlebnissen konfrontiert. So musste er das Skifahren aufgeben, wie Sie schreiben. Er muss sich sehr alleine fühlen, so wie Sie auch. Für Ihren Mann muss die Krankheit, die keinen Namen hat, einen ganz grossen Stress auslösen. Wie Sie schreiben, ist Ihr Mann depressiv und er weint oft. Das ist eine Folge der Krankheit, in welcher sich Ihr Mann völlig verloren und sehr alleine vorkommen muss, weil er mit niemandem sprechen kann.

Und besonders Sie sind mit Ihren Sorgen ganz alleine. Sie spüren, dass möglicherweise eine Alzheimerdemenz da ist, mit allen Folgen. Kein Hirnschlag, wie Sie schreiben. Und Sie spüren, dass sich Ihre Beziehung verändert hat. Möglicherweise ist Ihr Mann nicht mehr der Ehemann, mit dem Sie über alles sprechen konnten. Und Sie wagen es nicht, mit ihm über seine Symptome zu sprechen, weil sie fürchten, dass er dadurch noch deprimierter werden könnte. Und wie ich Ihren Worten entnehmen kann, haben Sie sicher auch Angst, insbesondere nach dem Ereignis, welches Sie sicher als sehr traumatisch erlebt haben. Ihr Mann ging verloren. Aus meiner Sicht brauchen Sie beide Unterstützung und vor allem eine klare Diagnose und eine ganzheitliche Begleitung und Betreuung. Das kann durch den Hausarzt erfolgen oder durch den Neurologen oder auch in einer Memory-Klinik. Doch Sie müssen sich wohl fühlen und verstanden.

Medikamente können zwar den Verlauf verbessern, doch es gibt keine Heilung. Deswegen brauchen Sie Fachpersonen, die mit Ihnen beiden gleichzeitig offen sprechen, Ihnen die Diagnose mitteilen und Sie in der Folge begleiten und betreuen. Sie werden sehen, dass es auch in dieser scheinbar hoffnungslosen Situation Lösungsstrategien gibt. Sie können auch zusätzlich Unterstützung in der Alzheimervereinigung finden, vielleicht auch in einer Angehörigengruppe, und für Ihren Mann gibt es auch nicht-medikamentöse Möglichkeiten wie Musik-oder Maltherapie, Gedächtnistrainings, am besten in einer Gruppe, wo er spürt, dass er nicht alleine ist mit seiner Krankheit. Das stärkt sein Selbstgefühl. Und Sie werden mit Hilfe von Fachleuten eine andere Form der Kommunikation finden, die Ihnen hilft, dass Sie trotz des schmerzlichen Prozesses mit Ihrem Mann wieder offen sprechen können. Doch das Abschiednehmen bleibt, der unklare, nicht einzuordnende Prozess eines ständigen Abschiednehmens von Gewohntem. Trauer ist ein normaler Prozess, den alle Angehörigen spüren.

Und wie Sie schreiben, haben Sie das Gefühl, dass Ihr Mann nicht in vollem Umfang spürt, was abläuft. Auch das ist normal bei der Demenzerkrankung: Menschen mit Demenz nehmen ihre Symptome nicht in vollem Umfang wahr, oft streiten sie auch Defizite ab. Auch das ist normal, es ist ein Teil der Krankheit. Wichtig ist in solchen Situationen, dass man nicht zu streiten und zu argumentieren beginnt, sondern dass man versucht, das Gesagte einfach stehen zu lassen. Das ist aber einfacher gesagt als getan.

Liebe Leserin, gerne würde ich Sie in unserer Memory-Klinik beraten, wenn Sie es noch für notwendig halten nach den Abklärungen beim Neurologen. Ich hoffe ganz fest, dass Sie wieder neuen Mut und Hoffnung finden.

Herzlich, Ihre Dr. Irene Bopp-Kistler

 

Der Buch-Tipp: Da und doch so fern – Vom liebevollen Umgang mit Demenzkranken


Irene Bopp-Kistler, Marianne Pletscher (Hg.)

Anders als in der bisherigen Literatur zu Demenz, konzentriert sich die amerikanische Forscherin Dr. Pauline Boss explizit auf die Themen »Beziehung« und »Abschiednehmen«. Ihr grosses Anliegen ist es, aufzuzeigen, wie Angehörige von Demenzkranken mit ihren eigenen Gefühlen zurechtkommen können.

Das Buch hilft Angehörigen dabei, mit der anhaltenden Belastung und Trauer, die eine Demenzerkrankung im nahen Umfeld mit sich bringt, umzugehen. Viele von ihnen erleiden einen »uneindeutigen Verlust«, das heisst, die an Demenz erkrankte Person ist zwar physisch präsent, aber psychisch abwesend; der Verlust ist besonders schwer zu verarbeiten, da er schleichend ist und weder einen klaren Anfang noch ein klares Ende kennt. Pauline Boss erläutert unter anderem anhand von sieben therapeutischen Strategien, wie pflegende Angehörige Zuversicht und seelische Widerstandskraft gewinnen können.

Pauline Boss | Da und doch so fern – Vom liebevollen Umgang mit Demenzkranken | Irene Bopp-Kistler, Marianne Pletscher (Hg.) | Aus dem Amerikanischen von Theda Krohm-Linke | 200 Seiten Hardcover ISBN 978-3-907625-74-3 | CHF 36.00 | EUR 30.20 | September 2014