Die Frau mit dem inneren Licht

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Wie Bäuerin Brigitte ­Schraner plötzlich blind wurde, wie sie Haus und Hof neu kennenlernen musste und warum für sie in der Dunkelheit ein neues Licht aufging.

«Ein Lichtblitz, den Bruchteil einer Sekunde lang. Ich sah noch den Vorhang des Spitalzimmerfensters. Kurz. Sehr kurz. Der Arzt war zu mir ans Bett gekommen und hatte mich aufgefordert, die Augen zu öffnen. Das tat ich. Doch einen Augenblick später war alles stockdunkel.»

Die Spitalvorhänge sollten das Letzte sein, das Brigitte Schraner, 54, aus Will bei Etzgen AG in ihrem Leben zu sehen bekam. Für die Bäuerin ging am zweiten Weihnachtstag vor fünf Jahren das Licht aus. Einfach ausgeknipst. Nicht mal ein Schimmer mehr, keine Schärfen und keine Unschärfen. Die Welt der Farben war weg und auch alle Grautöne waren in ein schwarzes Loch gefallen. «Dass ich wenige Tage zuvor noch auf der Intensivstation lag, künstlich ins Koma versetzt worden war, davon weiss ich nichts. Ich erinnere mich aber an den 7. Dezember. Am Morgen war mir im Stall übel geworden. Wie der Beginn einer Grippe fühlte es sich an. Ich legte mich aufs Bett, doch es wurde immer schlimmer und mein Mann brachte mich zum Hausarzt. Tatsächlich Grippe, so die Diagnose. Einen Tag später eigenartige Hautausschläge und sehr hohes Fieber. Als Notfall musste ich ins Spital, bekam noch mit, wie ich in ein separates Zimmer verlegt wurde. Dann riss mein Faden.»

Sie sprachen von Schweinegrippe, Vogelgrippe, Hirnhautentzündung oder irgendetwas anderem. Wahrscheinlich ein Virus. Im Stall übertragen? Aber warum dann nur sie und nicht auch ihr Mann? Bis heute ist nicht klar, woran die Bäuerin erkrankte. So stark erkrankte, dass nur ein künstliches Koma ihr Leben retten konnte. Die Ärzte hatten mit dem Schlimmsten gerechnet und deshalb die stärksten Massnahmen ergriffen. Die Familie wusste nicht, wie ihr geschah. Und mittendrin Brigitte Schraner, deren Leben am seidenen Faden hing. Zehn Tage Intensivstation. Desolater Zustand. Quarantäne. Kein Zutritt mehr für die Familie.

Derweil das Leben zu Hause weitergehen musste. Aufgabenneuverteilung. Die Kinder im Alter von 13, 16 und 17 übernahmen neben Schule und Lehre den kompletten Haushalt, Ehemann Adrian arbeitete im Stall für zwei, so gut es ging. Daneben die dauernde Angst um Mutter und Ehefrau Brigitte. Ein Weihnachten unter Tränen. Die Welt von Familie Schraner stand Kopf.

Aufatmen, als es besser wurde, als die Medikamente zu wirken begannen, das Fieber sank und sich der Kreislauf stabilisierte. Doch die eigentliche Schreckensmeldung stand noch bevor. Brigitte Schraner war erblindet. Der Virus hatte die Sehnerven an beiden Augen zerstört. Die Untersuchungen in der Augenklinik liessen keinen Zweifel offen. Brigitte Schraner: «Tief in meinem Innern wusste ich längst, dass es fertig war mit dem Sehen. Sogar schon, als die Ärzte noch Hoffnung verbreiteten.»

Was wird nun aus dem Traum von der grossen Reise nach Australien, die sie sich zum 50. Geburtstag schenken wollte? Was mit all den Dingen, die sie noch sehen und erleben wollte? Würde irgendetwas noch Sinn machen ohne den Zugang zur Welt der Bilder? Nicht mehr sehen können, wie sich die eigenen Kinder entwickeln, wie ihre Augen strahlen beim Lachen, wie tränenerfüllt sie gucken beim Weinen. Kein Sonnenstrahl würde jemals mehr bei ihr ein Abbild von Wärme und Lebensfreude erzeugen können. Nur noch aus dem Reservoir zehren, das sich in den ersten 49 Lebensjahren bei ihr in Form von Erinnerungen angehäuft hat.

Und wie sollte es auf dem Bauernhof weitergehen? Zwischen Tieren und Maschinen? Wo harte körperliche Arbeit unmittelbar vom Geschehen in der Natur abhängt? Wie soll jemand ohne die Kraft der Augen reife von unreifen Kirschen unterschieden? Auf dem Bauernhof gibt es keine Fliessbandarbeit. Adrian Schraner war verzweifelt. Würde er den Hof ohne seine Frau alleine bewirtschaften können? Eine externe Kraft einstellen? Nein, das wäre finanziell untragbar; der Betrieb würde es nicht verkraften.

Fünf Jahre sind verstrichen. Brigitte Schraner erinnert sich an die Zeit im Spital, als ihre ganze Muskelkraft verloren ging. Die Krankheit, das Liegen, die vielen Medikamente hatten sie geschwächt, so dass ihr erster Weg nicht nach Hause, sondern in die Rehabilitationsklinik führte. Hartes Training, wochenlang, von Ende Januar bis Anfang April. Muskelmasse aufbauen, Beweglichkeit wieder herstellen, Vertrauen in die Bewegungen im Dunkeln erlangen. Dann ein Wochenende Probe wohnen zu Hause. Erst jetzt konnte die Eingliederung in den Alltag gedanklich beginnen. Machbar nur dank der grossen Hilfe des Schweizerischen Blindenbundes. Brigitte Schraner sollte so gut wie möglich wieder im bäuerlichen Hofleben Fuss fassen, bekam mit Joseph Aschwanden einen persönlichen Rehabilitationslehrer zur Seite gestellt. «Ich war Coach, Psychologe, Zuhörer und Lehrer. Wir mussten uns zuerst gut kennenlernen und finden, um eng und vertraut zusammenarbeiten zu können. Die grosse Herausforderung war, das Wohnhaus vom Stall zu trennen, obwohl bisher ein fliessender Übergang gelebt worden war. Hier wurde auch Ehemann Adrian auf die Probe gestellt. Er durfte nicht mehr mit schmutzigen Schuhen ins Haus kommen und sein ganzes Verständnis von Arbeitsteilung wurde schlagartig über den Haufen geworfen, wegen Unfallgefahr gehörte der Stall für Brigitte Schraner zur verbotenen Zone.»

Joseph Aschwanden: «Dafür machten wir das Bauernhaus fit. Aus Hygienegründen und wegen gefährlicher Stolperfallen wurden alle Teppiche herausgerissen und durch glatte Parkettböden ersetzt, Absperrungen und Handläufe montiert. In der Küche befestigten wir auf den Möbeln erhöhte Abgrenzungen, damit die Dinge nicht hinten von der Ablage herunterfallen können. Wir brachten am Herd spürbare Markierungen für Ober- und Unterhitze an. Gebrauchsgegenständen wurden in den Schränken eindeutige Plätze zugeordnet.»

Brigitte Schraner: «Ich musste unser Haus komplett neu kennenlernen, mir die Abstände zwischen den Orten und Dingen einprägen. Die gespeicherten Bilder von früher mit den neuen Tasterfahrungen zusammenführen. Vertrauen entwickeln und darauf zählen, dass keine Dinge am Boden herumliegen. Das verlangte Disziplin und eine Engelsgeduld von meiner ganzen Familie. Oh und dann das Treppensteigen …, das war ein Thema für sich. Ich hätte heulen können wegen dieser Treppen; auch, weil mir zu Beginn einfach die Kraft fehlte. Wie viele Stufen sind es? Wie viele habe ich schon absolviert? In den eigenen vier Wänden bin ich immer ohne Blindenstock unterwegs. Da gehe ich von Wand zu Wand, von Türbogen zu Türbogen, von Möbelstück zu Möbelstück. Ich kann wieder telefonieren und eine sprechende Uhr gibt mir den zeitlichen Raster. Auch die Waschmaschine lernte ich blind zu bedienen. Die Wäsche sortieren tun die Kinder, doch immer mehr merke ich, welche Kleidungsstücke mit welchen Temperaturen gewaschen werden dürfen. Nur Weisses und Buntes muss man für mich trennen.»

Schwierigkeiten warteten auch in der Küche. «Den Herd hätte ich am liebsten aus dem Fenster geworfen. Da brauchte ich noch mehr Geduld und Beherrschung. Mittlerweile hab ich die Abläufe verinnerlicht, muss mein Tempo manchmal sogar bremsen. Aber Fischstäbchen mache ich keine mehr. Die werden bei mir immer schwarz, und wenn ich das Verbrannte rieche, ist es schon zu spät. Mit den Hacktätschli dasselbe. Beim Kartoffelstock kann mir das nicht passieren, denn im Gegensatz zu früher nehme ich heute die Flocken aus dem Beutel. Das geht für mich schnell und einfach. Die Chriesi für die Konfitüre entsteine ich übrigens wie früher immer noch selber, Früchte schnetzeln geht auch gut, Kuchen und Guetzli backen kann ich ebenfalls wieder alleine.»

Ganz ohne fremde Hilfe geht es für Brigitte Schraner natürlich nicht. Eine Haushalthilfe bringt ihr das Dorf etwas näher. Erzählt, was in der Nachbarschaft geschieht, geht zum Coiffeur mit ihr, macht Ausflüge, kauft ein. Einfach mal nach Lust und Laune das Haus verlassen ist nicht möglich. Hadern mit ihrem Schicksal tut die 54-Jährige dennoch nicht. «Ich muss die Dinge annehmen und das Beste daraus machen, denn es nutzt ja nichts, wenn ich mich dagegen wehre. Statt in Wut und Selbstmitleid zu verfallen, versuche ich, alles in positive Energie umzuwandeln.» Sagt es und stellt erfreut fest, dass sie mit den verbliebenen Sinnen nach und nach geschafft hat, das fehlende Augenlicht zu einem grossen Teil zu kompensieren. «Ich orientiere mich vor allem mit dem Gehör, mit dem Geruchssinn sowie durch Tasten mit den Händen und Füssen. Wenn ich auf fremde Menschen treffe, höre ich zuerst gut zu. Nicht mehr der Blick in die Augen, sondern die Stimme der Menschen ist mein neues Fenster in deren Seele. Die Art zu reden sagt sehr viel über mein Gegenüber aus. Viele erschrecken, wenn ich sage, dass ich blind bin. Ohne zu sehen merke ich, wie sie zusammenzucken und nicht wissen, wie sie mit meiner Blindheit umgehen sollen. Ich rieche die Leute auch, spüre ihre Angst. Ich realisiere schnell, ob mich jemand für blöd anschaut, nur weil ich nicht sehen kann. Manchmal bin ich sprachlos, weil Blindheit so viel Verunsicherung auslöst. Sprachlos sein bekommt dann eine ganz neue Bedeutung. Beim Päcklipöschtler war es am Anfang auch so. Doch jetzt weiss er, dass ich sogar unterschreiben kann.»

Wie ist es eigentlich mit dem Träumen in der Nacht? Geht das noch? «Ja, und was für Sachen das sind! Am Anfang träumte ich, ich könne noch sehen. Ich sah zum Küchenfenster hinaus, sah Kühe vorbeilaufen, die Kinder aus der Schule nach Hause kommen. Ich habe so klar geträumt, dass ich glaubte, wieder zu sehen. Mit einem Lächeln auf den Lippen erwachte ich. Und obwohl ich in die dunkle Realität zurückkatapultiert wurde, begann der Tag mit Freude. Ich zehre heute noch von diesen Bildern.»

Aus Brigitte Schraner ist in den letzten fünf Jahren ein anderer Mensch geworden. Verschlossene Türen haben sich geöffnet, ungekannte Dimensionen sich entfaltet. Im Verborgenen ist für sie ein ganz neues Licht aufgegangen. Eines, das nicht über die Augen den Weg in ihr Inneres findet. Joseph Aschwanden vergleicht: «Offener als vor fünf Jahren, kommunikativer und viel klarer, durchsetzungsstärker, trotz allem deutlich lebensfreudiger. So sehe und erlebe ich Brigitte Schraner heute. Und das merkt sie selber auch.»

Und er ergänzt: «Und ja, ich habe Brigitte Schraner nie bedrückt gesehen, mich aber oft gefragt, wohin der Schmerz über das verlorene Augenlicht bei ihr gegangen ist, wo die Wut untergetaucht ist und wo die Trauer. Brigitte Schraner war nie schwermütig, hat im Gegenteil während unserer gemeinsamen Zeit viel gelacht. Der Mut, die Offenheit, die sie von Anfang an ausgestrahlt hat, sind ihr nicht abhandengekommen.»

Der Blindenbund hilft

Bäuerin Brigitte Schraner hat dank der unbürokratischen und direkten Hilfe des Schweizerischen Blindenbundes die Rückkehr auf ihren Hof bewältigt. Joseph Aschwanden, Lehrer für Lebenspraktische Fähigkeiten, hat diesen Prozess über Monate begleitet und vorangetrieben. Er ist einer von 45 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser von Bund und Kantonen anerkannten, gemeinnützigen Selbsthilfeorganisation. Für den Blindenbund mit seinen 1200 Mitgliedern stellt besonders die Sehbehinderung im Alter eine immer wichtigere Aufgabe dar. Den Blinden und Sehbehinderten soll ein selbständiges Leben zu Hause und ein bestimmtes Mass an Mobilität ermöglicht werden.

Spezialisierte Fachpersonen unterstützen Sehbehinderte und Blinde – übrigens auch Nicht-Mitglieder – und deren Angehörige kostenlos. Alle Beratungs- und Betreuungsangebote sind ganz individuell auf die jeweiligen Personen zugeschnitten.

Niemand kann die Bedürfnisse und Probleme von Sehbehinderten oder Blinden besser nachvollziehen, als die Betroffenen selbst. Hilfe zur Selbsthilfe lautet deshalb das Credo. Dafür stehen die Regional- und Kontaktgruppen. Sie bilden die Standbeine des Vereins. Um Kontakte unter Betroffenen und gegenseitige Hilfe zu fördern, finden in den Regional- und Kontaktgruppen regelmässig kulturelle und gesellige Veranstaltungen in der Region statt. Viele Betroffene arbeiten in den Regional- und Kontaktgruppen mit und können die ihnen entgegengebrachte Hilfe zurückgeben und ihre Erfahrungen weitergeben.

 

Kontakt

Weitere Details sowie die Adressen zu den acht Beratungsstellen erhalten Sie hier:

Schweizerischer Blindenbund
Geschäftsstelle
Friedackerstrasse 8, Postfach 6663
8050 Zürich

Tel. 044 317 90 00
[email protected], www.blind.ch

 

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