Ich gehe

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Trudi Michel, 56, ist nicht mehr. Sie hat dem Leben adieu gesagt. Getrieben von Multipler Sklerose. Gegangen nach ihrem eigenen Plan.

Es ist Dienstag, der 1. Juli 2014. Sechs Tage noch, dann wird Trudi Michel sterben. Der Milan kreist majestätisch in den Lüften. Stösst seine unverkennbaren Laute aus. Herbert Michel füttert ihn. Wie dressiert nähert sich der Raubvogel dem Stückchen Fleisch, zieht immer engere Kreise und greift nach kurzem Sturzflug zu. Trudi Michel strahlt, verfolgt das Schauspiel. «Ja, der Milan. So möchte ich fliegen können», sagt sie. Doch auch die Sehnsucht und der Vogel können sie nicht von ihrem Plan abbringen. Zu gut hat sie sich alles überlegt. Zu gross ist der Wunsch, das Elend zu beenden. Besser wird es nicht mehr werden, im Gegenteil. Das weiss sie. Es wäre wie bei ihrer Schwester. Die Multiple Sklerose schreitet voran. Zunehmend schnell. Zunehmend unerträglich. Menschenunwürdig.

Trudi Michel will nicht mehr, kann nicht mehr. Sie ist erst 56 Jahre alt. Ihre hellblauen Augen leuchten. Es ist noch viel Leben in ihnen, doch der Faden in die andere Welt ist gesponnen. Spürbar, fast sichtbar. Ich lese Glück und Triumph in ihrem Gesicht. Glück, dass das Leiden absehbar ist. Triumph, dass sie in sechs Tagen alle Demütigungen hinter sich lassen wird. Wie begegne ich einem Menschen, der aus freien Stücken mit dem Hier und Jetzt abschliesst; der den begleiteten Freitod wählt, um den zunehmenden Qualen seiner Krankheit zu entgehen? Kaffee? Gerne. Wasser? Ja bitte. Trudi Michel trinkt mit Röhrli. Anders geht es nicht mehr. Zu kraftlos sind ihre Arme am Nachmittag.

Exit Trudi MichelViel Zeit bleibt nicht. Die Tage kommen und gehen. Wie die Freunde, die Trudi alle nochmals besuchen. Sich den Tod bewusst machen. Den Countdown spüren. Noch die letzten Meter des Weges miteinander gehen. Einer Abschiedstournee gleich. Dann loslassen. Endgültig. Tränen ertränken die Ohnmacht der Besucher. Doch worin liegt deren Trauer? Im Vermissen? Im Mitgefühl? In der Vorstellung, das höchste Gut auf dieser Welt einfach herzugeben? Freiwillig. Frühzeitig. In vollem Bewusstsein.

Das Telefon klingelt. «Ein Jahresabo für eine Kochzeitschrift? Nein, das brauche ich nicht mehr, danke. Wissen Sie, ich habe alles. Aber vielleicht ist mein Mann interessiert.» Trudi Michel gibt den Hörer weiter, verdreht kurz die Augen. Wir lachen zusammen. Sie würde kein Menü mehr kochen, keine Gäste mehr nach diesen Rezepten verwöhnen können. Grotesk, aber das Lachen löst die Spannung. Vor allem bei mir. Sie nimmt’s locker. Ihr Gatte Herbert sitzt derweil etwas abseits, raucht eine Zigarre und folgt unseren Worten aufmerksam, saugt jede Silbe auf, bringt sich ab und zu ein. Trudi und Herbert Michel. Akteure und Regisseure zugleich; reden über das Stück, in dem sie selber die Haupt- und Nebenrolle spielen.

Die Räume im Einfamilienhaus in Fehraltorf wirken magisch beseelt. Erfüllt von den Gedanken an das, was bevorsteht. Trudis Entscheid hat die Tür zum Himmel aufgestossen, einen Spalt weit. Zufriedenheit und Dankbarkeit halten Einzug. Urvertrauen fühlt sich gut an.

Es ist ein Wechselspiel zwischen Dies- und Jenseits. Distanz löst Nähe ab und umgekehrt. Das Vogelgezwitscher mag irgendwie nicht recht dazu passen. Selbst die Kaffeemaschine tönt anders als sonst. Die Krankheit lässt sich nicht abschütteln. Hält besessen an Trudi Michel fest, behindert sie Tag und Nacht, macht allgegenwärtig, was der Grund für den Gang zur Sterbehilfe war. Mit einem Kribbeln im rechten grossen Zeh hatte alles begonnen. 29 Jahre alt war Trudi Michel damals. «Erst dachte ich, das komme vom Rauchen. Doch der Neurologe sprach von sanfter Multiple Sklerose. ‹So ein Blödsinn›, fiel ich ihm ins Wort. ‹Meine Schwester ist an MS gestorben und ich weiss genau, was MS bedeutet. Sanft ist daran nichts.› Worauf er mir reinen Wein einschenkte. ‹Jetzt also auch ich, das gibt es doch gar nicht›, dachte ich, hatte am Anfang aber noch grosse Hoffnung, denn die Rehabilitation in der Klinik Valens tat mir sehr gut. Ich machte Fortschritte.» Doch die progrediente Form der MS, also jene, die immer schlimmer fortschreitet, liess sich letztlich nicht aufhalten; Im Gegenteil, Sie gewann mit den Jahren die Oberhand. Erst schwanden die Kräfte in den Beinen. «Am Anfang konnte ich mich zu Hause noch rücklings sitzend die Treppe hinaufschleppen. Ich stemmte meinen Körper mit den Armen Stufe um Stufe nach oben. Mehr schlecht als recht, aber immerhin. Später ging nicht mal das mehr, denn ein Sturz mit Bruch des Oberarmes beendete auch diese Aktivitäten. Mehrere Wochen Spitalaufenthalt zwangen mich trotz Reha in den Rollstuhl.» Es musste ein Treppenlift her.

«Derweil wurden die Probleme mit der Blase immer grösser. Zuerst eilte ich dauernd auf die Toilette. Irgendwann konnte ich das Wasser nicht mehr halten und war auf Windeln angewiesen. Ich entschied mich für einen künstlichen Blasenausgang. Seither trage ich dieses Plastiksäckchen.» Die Abhängigkeit von Hilfsmitteln und Menschen wurde grösser. Aus den Gehstöcken war ein Rollator, aus dem Rollator ein Rollstuhl und aus dem Rollstuhl ein Elektro-Rollstuhl geworden. Selbst kleinste Verrichtungen wie Aufstehen oder zubettgehen waren nur noch mit Hilfe der Spitex möglich.

Welch beelendende Situation für die ehemalige Serviceangestellte. Ausgerechnet sie, die es gewohnt war, Dinge selber anzupacken und sich nicht auf andere zu verlassen. Die ihre Tische und Gäste im Griff haben musste, wenn alle Bestellungen fast gleichzeitig über sie hereinbrachen. Die von ihren Beinen kilometerweit von der Gaststube in die Küche und ans Buffet getragen wurde. Hin und her im Sauseschritt. Selbstbestimmt und unabhängig. So blühte Trudi Michel auf, konnte mit Menschen umgehen, musste lernen, die Leute höflich, aber bestimmt unter die Knute zu nehmen. «Im Service spielt das Menschliche eine grosse Rolle. Der Gast muss freundlich bewirtet werden, aber immer merken, dass ich der Boss bin. Speziell in Quartierbeizen ist das ganz wichtig. Man leistet oft psychotherapeutische Arbeit. Ich war eine gute Zuhörerin, kannte vom Clochard bis zum Anwalt alle. Samt ihren Problemen. Einer war Scheidungsrichter, der trank immer einen Gin Tonic im Ballonglas. Wir haben den Kontakt nie verloren. Letzte Woche war er zum Abschiedsbesuch bei mir.»

Haben alle Verwandten und Freunde positiv auf den Entscheid reagiert? «Die meisten schon. Niemand wollte mich umstimmen. Und ich lasse mich auch nicht umstimmen. Nein, ich bin am Ende meiner Kraft, ich möchte nicht mehr kämpfen. Auch in einem halben Jahr wird es nicht besser. Es gibt keine Wunderpille gegen MS. Und auch wenn ich diesen Sommer noch erleben würde: Der Herbst und die trübe Zeit werden kommen. Mit ihnen die tiefen Abgründe. Die Sinnlosigkeit.» Trotzdem sei ihr Tod keine Flucht. Nie habe sie einen Gedanken an Selbstmord gehabt. «Was ich wähle, ist ein bewusstes Erlösen von absehbarem, zusätzlichem Leiden. Ich mag nicht so lange hier sein, bis ich nur noch ein Häufchen Elend bin.»

Trudi Michel weiss, was sie will. Sich durchzusetzen lernte sie bereits in jungen Jahren. «Mit vier Brüdern und zwei Schwestern lebte ich zu Hause auf engstem Raum. Eine Schwester und ich teilten mit unseren Eltern das Schlafzimmer.» Schon während der Lehre zur Pferdepflegerin zog es sie deshalb hinaus. Hinaus aus dem engen Heim und hinaus aus dem 800-Seelen-Dorf Bretzwil BL, wo es keine Disco, sondern nur die alten Stammkneipen gab. «Ich wollte unter die Leute, dahin, wo etwas läuft. Im Restaurant meiner Tante lernte ich Serviceangestellte, arbeitete nachher in verschiedenen Gaststätten im Grossraum Zürich.»

Und heute? Trudi Michel: «Vor drei Monaten hatte ich eine derart schlechte Phase, dass der Plan mit Exit konkrete Formen annahm.» Sie überlegt, blickt ins Nichts. Ihr Gesicht wird blass, ihre Stimme klingt verzweifelt. «Ich konnte meine Zähne nicht mehr selber putzen, konnte mein Gesicht nicht mehr selber waschen. Ich wollte im Rollstuhl sitzend etwas vom Boden aufheben und fiel seitlich heraus. Ich kippte vornüber ins Waschbecken und schaffte es nur mit letzter Kraft in den Sitz zurück. Mein Ärmel blieb am Joystick hängen und der Rollstuhl begann sich mit mir endlos im Kreis zu drehen.»

Trudi Michel weint. Sie hat die Kon­trolle über ihren Körper verloren. Hat das Kommando abgeben müssen. Hat deshalb entschieden, sich von diesem Körper und seiner Krankheit in Würde zu trennen. Trudi Michel ist klar im Geist und präzis im Verstand. «Bei Exit schlug man mir den Juni als Sterbezeit vor. Doch da haben so viele von meinen Freunden Geburtstag. Das konnte ich ihnen nicht antun. So haben wir den 7. Juli gewählt.» Sie sagt es ohne Reue. In Würde abtreten von dieser Welt. Das wollte sie schon immer. Nicht dahinsiechen, abhängig sein von Pflegenden, nicht mehr selber entscheiden können. Nein. So nicht. «Ich habe mich genug herumgeärgert und gekämpft. Jetzt möchte ich gehen, weil ich nie in ein Pflegeheim eingeliefert werden will. Weil ich nie bettlägerig werden wollte. Es reicht mir jetzt schon mit der Spitex, ohne die ich nichts selber machen kann. Die Spitex holt mich aus dem Bett, die Spitex bringt mich ins Bett. Das kann ich nicht mehr ertragen.»

Was kommt nach dem Tod? Gibt es Erwartungen an das Jenseits? «Ich weiss es nicht. Es wäre spannend, wenn ich als Schutzengel auf der Erde sein könnte, um jemandem zu helfen, der es im Leben schwer hat. Die Seele geht weiter, hat meine Schwiegermutter immer gesagt. Ich kann mir das vorstellen. Aber wohin? Ich weiss es nicht. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Habe ich nie gehabt. In meiner Familie bin ich schon oft damit konfrontiert worden. Als ich zehn Jahre alt war, sah ich meinen Vater sterben. Und viele meiner Bekannten mussten wegen Krebs gehen. Ich habe das miterlebt. Und ich habe viel über den Tod gesprochen. Ein abschreckendes Bild hatte ich dennoch nie, Angst vor dem Sterben auch nicht.»

Die sechs Tage sind um. Alles ist erledigt, was es noch zu erledigen gab. Fotos aussortiert. Geschenke verteilt. Auch die letzte Nacht auf Erden ist geschafft, Trudi Michel erwacht. Aufgenommen von der Spitex-Schwester. Angekleidet. Gewaschen. Eine Stunde früher als sonst, damit der Plan eingehalten wird. Mit dem Treppenlift ins Parterre. Im Elektro-Rollstuhl fixiert. Noch ein Joghurt essen, einen Tee trinken. Die letzte Zigarette rauchen, genüsslich. Wasser trinken, wie immer. Um 10.40 Uhr fährt sie mit dem Treppenlift in den oberen Stock. Putzt ihre Zähne mit der Kraft, die noch geblieben ist. Die Spitex-Schwester legt sie aufs Bett. Angezogen. Die beiden Becher stehen bereit. Und auch Trudi Michel ist jetzt bereit. Eine letzte Umarmung mit ihrem Mann Herbert. Ein letztes Lächeln. Dann geht sie.