So geht reifer Sex

Sex 09 17

«In meinem Alter läuft sowieso nichts mehr», sagt die 77-Jährige und fügt etwas beschämt hinzu, «ich darf ja gar nicht mehr wollen.» Und der sympathische Herr mit Glatze ganz leise: «Stimmt mit mir etwas nicht, wenn ich als 85-Jähriger noch Lust auf Sex habe?» Solche Dinge hört die Zürcher Sexualtherapeutin Dania Schiftan in ihren Sprechstunden. Letzthin habe sich eine gesunde Frau Anfang 70 selber als «alte Schachtel mit ‹Lampibrüsten›» bezeichnet, und ein 60-Jähriger fühlte sich nur noch als halber Mann, weil sein Penis nicht mehr so lange hart steht wie früher.

Die Muskelspannung im Beckenboden lässt nach

Was ändert sich beim älter werdenden Körper in Bezug auf die Sexualität? Dania Schif­tan: «Bei den Frauen wird in der Menopause die Scheide trockener. Auch die Muskelspannung im Beckenboden nimmt ab. Als sexuelles Steuerungselement wird der Beckenboden unbeweglicher. Gleichzeitig verliert die Haut an Elastizität und Stabilität. Die Brüste stehen nicht mehr so stramm, der Unterbauch wölbt sich nach aussen. Rein biologisch betrachtet geht in dieser Phase der eigentliche Sinn der Sexualität verloren. Der Körper gibt seine Fruchtbarkeit auf.» Und beim Mann? «Ganz klar: Beim ihm nimmt der Testosterongehalt ab. Dadurch sinkt auch seine Muskelspannung. Und die Stabilität der Erektion lässt nach. Sie hat nicht mehr die Härte und Dauer aus früheren Jahren.»

Die Bedeutung des Penis wird massiv überschätzt

Aus Sicht der Sexualtherapeutin ist das alles kein Problem. Fruchtbarkeit und Fortpflanzung hin oder her. «Viele Menschen haben falsche Vorstellungen von Sexualität. Reifer Sex hat eine andere Qualität als junger Sex. Nicht eine mindere, nur eine andere. Sex wird nicht mehr so praktiziert wie mit 20 oder 40. Das darf so sein und es ist gut, dass es so ist. Ich habe nämlich noch mit keiner Frau gesprochen, deren sexuelle Befriedigung von der Erektion des Penis ihres Partners abhängt. Die Bedeutung eines erigierten Penis wird massiv überschätzt. Vor allem die Männer selber definieren ihre Manneskraft auf diese sehr einseitige Weise. Nicht nur im Alter. Und zum Leidwesen der Frauen. Dabei würden schon jüngere Frauen viel lieber kuscheln und zärtlich berührt werden. Das kommt häufig zu kurz oder findet gar nicht statt. Genau hier liegt die Chance der reifen Sexualität. Und dafür gibt es sogar eine Anleitung.»

Körperlich angenehm und humorvoll

Humor und Zeit sind laut Dania Schiftan die beiden wichtigsten Pfeiler. «Mit den Jahren müssen die Partner lernen, beim Sex richtig locker zu werden. So locker, wie sie es eigentlich schon immer hätten sein können. Sie dürfen keine Angst haben vor möglichen Unzulänglichkeiten. Angst macht eng. Stress hat im Liebesnest nichts verloren. Dem Alter Rechnung tragen ist keine Niederlage. Anpassen bedeutet, Stellungen auf den Knien auszuweichen, Kamasutra-Sportprogramme auszulassen und auf Turnübungen im Auto zu verzichten. Sexualität im Alter darf körperlich angenehm und humorvoll sein. Auch mal über sich selber lachen. Mit dem Auge zwinkern, wenn nicht mehr geht, was früher ging. Das tut der Sexualität keinen Abbruch. Auch ohne Scham hinnehmen, was man früher für peinlich befunden hätte. Wenn in der Ekstase ein ‹Sprutz› Urin abgeht oder wenn ein Furz nicht gehalten werden kann. Oder wenn mitten im Liebesspiel der Rücken wehtut, weil die Hexe einschiesst. Nicht aufgeben, sondern in Bewegung bleiben, einfach nicht im Sport-, sondern im Schmuse-Tanz-Modus. Das haben sich die Frauen schon immer gewünscht. Wenn die Scheide innendrin behutsam stimuliert und gestreichelt wird, kommt sie in Fahrt, selbst im Alter.»

Langsamkeit und tiefe Atmung

Wie lernen Männer, mit ihrer veränderten Erektionsfähigkeit umzugehen? Was können sie tun, wenn sie sich daran stören, dass der Penis nicht wie früher schon vor dem Liebesspiel automatisch hart wird? Dania Schiftan: «Männer müssen mit ihrem Penis anders umgehen, ihn neu erkunden. Das kann man lernen. Es beginnt bei der Selbstbefriedigung, indem der Mann nicht nur mit der Hand am Penis reibt, sondern den Penis aus dem Becken heraus in die Hand hinein bewegt. Wie in eine Scheide hinein. Langsamkeit ist wichtig. Und tiefe Atmung bis in den Beckenboden. Viele Männer sind beim Sex – auch in der Selbstbefriedigung – viel zu starr. Erst durch Bewegung aus dem Körper heraus wird der Penis aber richtig durchblutet. Und selbst wenn er nicht mehr steinhart wird, kann man mit ihm problemlos in die Frau eindringen. Der Mythos, nur mit einem völlig erigierten Penis sei Sex möglich, kommt nicht von den Frauen. Dies ist eine Erfindung der Männer. Und sie ist falsch.»

Mit Bodylotion über den eigenen Körper fahren

Wie gibt man älteren Menschen ihr Selbstwertgefühl zurück? Viele gucken sich im Spiegel an und befinden, dass sie diesen alten Körper keinem anderen mehr zeigen möchten. Dania Schiftan: «Die Augen sind immer ungerecht. Statt sich lange im Spiegel anschauen, kann man etwas anderes machen: Sich bei der Körperpflege selber ertasten. Körperpflege ist ohnehin das A und O, und zwar bis ins hohe Alter. Für Mann und Frau. Nach dem Duschen Bodylotion in die Hände geben, langsam über den eigenen Körper fahren. Mit den Augen den Weg der Hände verfolgen. Spüren, erleben, erregen. Und auf einmal merkt man, wie gut sich faltige und weiche Haut anfühlt. Auch ein Bäuchlein stört nicht mehr, und selbst ein nur teilweise erigierter Penis ist spannend und anregend. Wer sich selber als wohlig und angenehm empfindet, wird seinen Körper voller Selbstbewusstsein dem Partner zeigen können.»

Ist Verhütung nach der Menopause auch noch ein Thema? Dania Schiftan: «Auf jeden Fall! Es geht dann nicht mehr um die Verhütung einer Schwangerschaft, sondern um die Vermeidung von Geschlechtskrankheiten. Und die werden altersunabhängig übertragen.»

Kontakt

Dania Schiftan ist Psychotherapeutin und klinische Sexologin. www.daniaschiftan.ch