Nehmen wir es gleich vorweg: Alter ist Abschied, und Alter ist Neuanfang. Und zwar jeden Tag. Wer das nicht begreift und täglich lebt, wird nicht glücklich alt. Und noch etwas sollten wir gleich zu Beginn klarstellen: Alt werden tut weh, körperlich und seelisch. Die Frage ist nur, wie wir mit diesem Schmerz umgehen. Aber alt werden ist auch schön. Man muss die Schönheit des Alters nur sehen wollen und nicht verstecken. Und zu guter Letzt: Alt werden macht auch Spass. Frei von irgendwelchen Zwängen und Fremdbestimmungen sich endlich einmal längst gehegte Wünsche erfüllen und ein bisschen verrückt sein – das können die meisten von uns nur im Alter.
Ein Geschenk Gottes
In vielen Kulturen wird das Alter geehrt. In manchen wie dem Judentum gilt Altsein sogar als ein fast idealer Lebenszustand. Der wichtigste Grundsatz der alttestamentlichen Gerontologie, der für die jüdische und für die christliche Religion verbindlich ist, heisst: Ein langes und erfülltes Leben ist ein Geschenk Gottes. Glücklich ist, wer alt und lebenssatt stirbt. In den Büchern Mose wird ein langes Leben demjenigen versprochen, der Vater und Mutter ehrt und keine falschen Gewichte verwendet. Die Ehrlichkeit im Umgang mit Geld sollten sich heute gewisse Branchen merken. Dies nur in Klammern.
Sich um die Eltern kümmern
Das lebenslange Lernen ist eine jüdische Tugend, die dem Alter besonderen Wert verleiht. Die Lebensweisheit, das Nachlassen körperlicher Triebe und die zusätzliche Zeit werden als grosse Vorteile angesehen. Jüdischen Kindern ist es streng geboten, sich um ihre Eltern zu kümmern, die Eltern werden in die Familien der Kinder, meist der Töchter, aufgenommen.
Ursprung im Alten Testament
Viele der heutigen Auffassungen über das Alter haben – ohne dass uns dies heute noch bewusst ist – ihren Ursprung im Alten Testament. Dort wird das Alter mit Klugheit, Erfahrung, Einsicht und Weisheit in Verbindung gebracht. Aber auch mit Schwächen wie nachlassender Liebesfähigkeit, Sinnesleistung und Gesundheit.
Götterbote Alter
Im Buddhismus, der das Leben beziehungsweise den Kreislauf der Wiedergeburten als Leiden konzipiert, wird auch das Altern als Leiden begriffen. Es erscheint in einer Reihe mit dem Leiden der Geburt, der Krankheit und des Todes. Ursache des Leidens sind die drei Geistesgifte Gier, Hass und Verblendung beziehungsweise das Festhalten am Vergänglichen. Damit das Leiden erlischt, müssen diese Übel durch den Edlen Achtfachen Pfad überwunden werden. Das Alter gilt im Buddhismus – ebenso wie Krankheit und Tod – als Götterbote, als eine Tatsache, die den Menschen zu ernstem Nachdenken mahnt.
Alles ist vergänglich
Der römische Schriftsteller und Philosoph Cicero wehrte sich in seiner Schrift «Cato Maior de Senectute» gegen die Klagen, die gegen das Alter geführt werden. Er wies darauf hin, dass vor allem diejenigen das Alter als beschwerlich empfinden, die auch in früheren Lebensphasen schon unglücklich waren. Cicero plädiert für ein aktives Alter, das seine Ressourcen wie Vernunft, Klugheit, Weisheit und Erinnerung bewahrt und nutzt und Sinn durch die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft findet. Dass die Gelüste und Begierden der Jugend im Alter nachlassen, hält Cicero geradezu für einen Segen, denn aus diesen entstehe ja nur Unheil. Selbst die Nähe des Alters zum Tod sei nicht wirklich ein Unglück, denn alles in der Natur sei nun einmal vergänglich, und egal, ob man an ein Jenseits glaube: Einen Zustand, in dem man elend sei, bringe der Tod gewiss nicht.
Herausforderung annehmen
Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson hat das Alter als einen Lebensabschnitt beschrieben, in dem das Seelenleben sich im Spannungsfeld zwischen den beiden Polen Integrität und Verzweiflung vollziehe. Der Grundkonflikt des Alters bestehe in der Herausforderung, sowohl das Leben, auf das man zurückblickt, als auch den Tod, dem man entgegensieht, anzunehmen.
In den modernen Industriegesellschaften ist der Begriff des Alters eng mit dem Austritt aus dem Erwerbsleben beziehungsweise dem Eintritt in den Ruhestand verknüpft.
Vier Generationen leben zusammen
In unserer Zeit wird Alter sehr gegensätzlich erlebt. Einerseits gibt es einen noch nie da gewesenen Jugendwahn. Andererseits spricht man von der goldenen Generation und von «best agers». Das Defizitmodell, nachdem es ab dem 40. Lebensjahr nur noch bergab geht, ist heute zum Glück überholt. Das moderne Verständnis von Alter basiert auf einem Ressourcenmodell, das nicht fragt, was ich nicht mehr kann, sondern, was ich immer noch kann oder wieder neu kann. Tatsache ist: Noch nie in der Geschichte der Menschheit lebten vier Generationen zusammen und noch nie wurden so viele Menschen so gesund alt wie heute.
Krankheiten und Syndrome
Heute werden mehr als 300 mögliche Ursachen des Alterns diskutiert. Sie reichen von Abnutzungs- und Verschleisstheorien, über zellbiologische bis hin zu genetischen Ursachen. Nur wenige Krankheiten treten ausschliesslich oder fast nur im hohen Alter auf. Viele kommen im Alter jedoch gehäuft vor. Man unterscheidet zwischen altersassoziierten Krankheiten und Alterssyndromen. Zu den altersassoziierten Krankheiten zählen die Arteriosklerose mit Herzinfarkt und Schlaganfall, Arthrose, Demenz, Diabetes, Grauer Star, Krebs und Osteoporose. Zu den Alterssyndromen werden Immobilität, Inkontinenz und Nachlassen der Sinnesleistungen gerechnet.
Unvermögen und Unachtsamkeit
Wie wir alt werden, ob glücklich oder unglücklich, ob aktiv oder abgestellt im Pflegeheim, ob neugierig oder depressiv, ob integriert oder einsam, ob kräftig oder schlaff, ob frisch oder verkalkt, das haben wir weitgehend selber in der Hand. Nicht Alzheimer und Co. sind die grössten Feinde für ein glückliches Alter, sondern eigenes Unvermögen und Unachtsamkeit gegenüber Körper und Seele.
Nehmen wir die Muskulatur. Nicht das Alter ist schuld, wenn die Muskeln ab- und das Fett angebaut wird. Im Alter schwinden die Muskeln nicht, wie lange Zeit angenommen, wegen einer Reduktion der körpereigenen Eiweisssynthese. Die Ursachen liegen ganz woanders: Mangelhafte Ernährung, körperliche Inaktivität und möglicherweise hormonelle Veränderungen, gegen die man aber etwas tun kann. Auch der im Alter häufige Fettansatz ist keineswegs Schicksal.
Muskelmasse erhalten
Wenn es im Alter zum Muskelabbau kommt, hat das gravierende Folgen. Sie reichen von Stürzen bis hin zum Verlust der Selbständigkeit. Denken wir nur an die verhängnisvollen Schenkelhalsfrakturen, von denen sich nur die wenigsten älteren Menschen wieder ganz erholen oder an die Tatsache, dass am Schluss die Muskelkraft darüber entscheidet, ob jemand die Türe zu seiner eigenen Wohnung öffnen, selbständig aus dem Bett steigen, sich waschen und kochen kann. Studien zeigen, dass es mit regelmässiger körperliche Betätigung und einer ausgewogenen, eiweisshaltigen Ernährung gelingt, die für den jungen Körper typische Muskelmasse zu erhalten.
Selbst Hochbetagte im Alter von 90 Jahren profitieren nachhaltig von körperlicher Aktivität oder einem einfachen Training. Der Kraftzuwachs beträgt dabei bis zu 200 Prozent. Dazu braucht es nicht einmal einen Kraftraum. Es genügen schon zwei Mineralwasserflaschen, die man mit den Händen stemmen kann und ein Treppenhaus, das man täglich mehrfach anstelle des Lifts benutzt.
Nutzen der Bewegung
Der Nutzen ist gewaltig: Weniger Stürze und Knochenbrüche, weniger Spital- und Pflegeheimeinweisungen, eine massiv erhöhte Gehgeschwindigkeit etc. Der Nutzen der Bewegung zeigt sich auch in mehrfacher Hinsicht beim Herz-Kreislauf-System und beim Stoffwechsel. Blutdruck, Cholesterin, Blutzucker werden reduziert. Die Knochenarchitektur verbessert sich. Sogar der Hirnstoffwechsel wird aktiviert. Hirnzentren werden besser miteinander vernetzt. Die körperliche Liebesfähigkeit steigt, das Alzheimerrisiko sinkt und so weiter.
Nahrungsenergie und Nährstoffe
Ältere Menschen sind häufig von Mangelernährung und unzureichender Versorgung mit Nährstoffen betroffen. Ursachen sind oft Verdauungsprobleme und Appetitlosigkeit. Für den Erhalt von Gesundheit und Lebensqualität ist die ausreichende Versorgung mit Nahrungsenergie und Nährstoffen entscheidend. Ab dem 65. Lebensjahr sinkt der Energiebedarf des Körpers, der Bedarf an Nährstoffen bleibt gleich hoch. Deshalb sollte man Lebensmittel bevorzugen, die wenig Kalorien und viele Nährstoffe liefern.
Arbeit bis ins Grab war bis Mitte des 20.Jahrhunderts das Schicksal der meisten Menschen. Noch 1970 arbeitete fast die Hälfte der Männer in der Schweiz auch nach dem AHV-Alter weiter. Eine ausgedehnte nachberufliche Lebensphase wurde erst in den letzten drei Jahrzehnten möglich. Heute sind immer mehr Menschen auch im höheren Alter aktiv und gesund. 65-jährige Männer können mit durchschnittlich 13 Lebensjahren ohne Behinderungen rechnen; gleichaltrige Frauen sogar mit 16 behinderungsfreien Jahren.
Trend zur Frühpensionierung
Obwohl weniger stark als in den Nachbarländern hat sich auch in der Schweiz der Trend zu vorzeitigen Pensionierungen durchgesetzt. Nur noch eine knappe Mehrheit von 51 Prozent zieht sich erst nach dem vollendeten 65. Altersjahr aus dem Erwerbsleben zurück. Eine um ein, zwei oder drei Jahre vorgezogene Pensionierung ist häufig geworden.
Seit den 1990er-Jahren haben sich die Widersprüche zwischen vorzeitiger Pensionierung und finanziellen Engpässen der Altersvorsorge in ganz Europa verstärkt. Es wird immer deutlicher, dass sich Sozialpolitik und Wirtschaft eine vorzeitige Ausgliederung älterer Menschen langfristig kaum mehr leisten können. Trotzdem kennen viele Firmen und Verwaltungen nur feste Altersregelungen, die eine Weiterbeschäftigung nach dem AHV-Alter ausschliessen.
Erfolgreich und glücklich altern
Zwei Gründe, weshalb der Trend zur Weiterbeschäftigung älterer Menschen sich verstärken wird: Erstens kann die demografische Alterung besser bewältigt werden. Zweitens nimmt die Zahl älterer Männer und Frauen zu, die auch im höheren Lebensalter fachlich und beruflich kompetent und motiviert bleiben. Alle Studien belegen, dass aktive Engagements wesentlich zu einem erfolgreichen und glücklichen Altern beitragen.
Zum Älterwerden gehört eine Aufgabe. Jeder Mensch hat ein Bedürfnis nach Bedeutung. Er braucht jeden Tag die Bestätigung, dass es ihn gibt, und dass er für irgendjemanden wichtig ist. Deshalb benötigen wir für ältere Menschen einen Bedeutungszuwachs. Eine Art von Arbeit, an der sie wachsen können und Verantwortung spüren. Es wird eine grosse gesellschaftliche Herausforderung werden, Arbeit oder Aufgaben für ältere Menschen zu finden, auch jenseits des Bruttosozialprodukts.
Liebe als Energiequelle
Freundschaft, Zärtlichkeit, Sinnlichkeit und Sexualität ist eine Energiequelle, auch im Alter. Geben wir der Liebe eine Chance – auch im Alter. Bleiben wir offen für Neues, neue Menschen, Begegnungen und für Gefühle. Eine Untersuchung der Universität Zürich hat ergeben, dass mehr als die Hälfte der Männer und ein Drittel der Frauen auch nach ihrem siebzigsten Geburtstag Geschlechtsverkehr haben. Andrerseits ist das Thema Alterssexualität tabuisiert. Sexualität, zärtliche Zuwendung und Sinnlichkeit sind jedoch lebenswichtige Erfahrungen bis zum letzten Tag. Das Leben ist zu kurz für ein Trauerjahr.
Probleme und Gefahren von Alkohol
Kommen wir zu ein paar Problemen und Gefahren. Sehr häufig und dennoch kaum beachtet werden Alkoholprobleme älterer Menschen.
Bei zwei Dritteln der älteren Menschen, die ein Alkoholproblem haben, besteht dieses schon seit längerer Zeit. Etwa ein Drittel entwickelt dieses erst nach der Pensionierung.
Der Übergang vom Genusskonsum zum Alkoholmissbrauch und zur Abhängigkeit ist fliessend. Es gibt keine genau definierte Konsummenge, bei der jemand als alkoholabhängig gilt. Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich.
Das Gefühl, nicht mehr auf Alkohol verzichten zu können, ist ein klares Anzeichen dafür, dass man genauer hinschauen und sich an eine Fachstelle wenden sollte. Problematisch sind auch ein Konsum, der Probleme verdrängen soll, eine steigende Konsummenge und Entzugserscheinungen. Auch wenn jemand wegen Alkohol bereits Probleme hatte – zum Beispiel eine Busse, einen Unfall oder Streit – oder wenn nahestehende Menschen wegen des Konsums schon Sorge ausgedrückt haben, sollte das ein Anstoss sein, etwas zu tun.
Kleine Menge, starke Wirkung
Das Älterwerden bringt Veränderungen mit sich, die beim Alkoholkonsum bedacht werden sollten. Mit steigendem Alter – ab ungefähr 50 Jahren – sinkt der Wasseranteil im Körper. Der Alkohol verteilt sich auf weniger Körperwasser und wirkt deswegen stärker. Die Funktionsfähigkeit von Leber und Nieren nimmt ab. Deshalb ist auch bei kleinen Konsummengen das Risiko für gesundheitliche Probleme erhöht.
Mit zunehmendem Alter überschreitet man die Promillegrenze schneller. Damit steigt die Unfallgefahr, zum Beispiel im Strassenverkehr oder im Haushalt. Zudem wird mit steigendem Alter der Gleichgewichtssinn empfindlicher und die Beweglichkeit wird eingeschränkt, was das Risiko von Unfällen weiter erhöht. Alkohol ist ein untaugliches Schlafmittel, besonders für ältere Menschen. Er beeinträchtigt die erholsamen Phasen des Schlafes, erzeugt oft paradoxe Reaktionen und provoziert verhängnisvolle Stürze.
Risikofaktor Bluthochdruck
Sprechen wir die Alzheimer-Demenz an. Sie entsteht durch den Untergang von Nervenzellen im Gehirn. Erbfaktoren können dabei eine Rolle spielen. Der Mechanismus der Zellschädigung ist bekannt, die genauen Ursachen dafür aber nicht. Die vaskuläre Demenz entsteht durch die Erkrankung von Blutgefässen, die das Gehirn versorgen. Der wichtigste Risikofaktor für eine vaskuläre Demenz ist Bluthochdruck. Fast zwei Jahre verstreichen, bis die Diagnose Alzheimer nach den ersten eindeutigen Symptomen gestellt wird. Dabei gäbe es wirksame Therapien.
Zeichen für Depression erkennen
Im höheren Lebensalter werden Depressionen oft übersehen, obwohl sie die häufigste psychische Störung bei alten Menschen ist. Das liegt am Vorurteil, eine gewisse Niedergeschlagenheit gehöre zum Alter. Symptome wie vermehrte Niedergeschlagenheit oder Antriebsmangel sind auch im Alter Zeichen für eine Depression. Oft sind gar keine seelischen Beschwerden vorhanden, sondern die Depression macht sich allein durch körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, Schmerzen ohne klar fassbare körperliche Ursache, Probleme mit dem Schlaf, der Verdauung und dem Appetit oder mit rascher Erschöpfung bemerkbar.
Ans Hörgerät denken
In einem engen Zusammenhang mit Depressionen im Alter steht die Schwerhörigkeit. Zehn bis fünfzehn Jahre dauert es, bis jemand endlich an das Tragen eines Hörgerätes denkt. Es sind meist verlorene Jahre, weil mehr und mehr wichtige Sinneseindrücke fehlen und die Betroffenen sich zurückziehen. Ob Schwerhörigkeit oder Alzheimer, ob Rheuma oder Herzschwäche, bleiben wir nicht bei dem stehen, was im Alter Mühe bereitet, sondern sehen und pflegen wir das, was wir noch haben, auch wenn es nur noch für eine Weile ist.