Aus Lebensfrust wird Liebeslust

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Vier Studien aus England belegen, dass Paare am glücklichsten sind, wenn sie noch keine Kinder haben. Das verwundert kaum jemanden. Am tiefsten ist die Ehezufriedenheit, wenn die Jugendlichen in die Pubertät kommen, also im Alter zwischen 12 und 16. Doch ich kann Sie trösten. Die vier Studien haben auch gezeigt, dass die Ehezufriedenheit wieder ansteigt, sobald die Jugendlichen aus dem Elternhaus ausgezogen sind. Ich konnte diese Untersuchung kürzlich mit einer Gruppe von Jugendlichen besprechen. Sie fanden, die Studie sei megafies, aber sie würden das verstehen.

Betrachtet man nur schon den normalen Alltag mit Jugendlichen in der Pubertät, fällt auf, dass insbesondere die Mütter am heftigsten unter den emotionalen Ausbrüchen leiden. Zum Teil gehen die Jugendlichen in der Zeit der Ablösung mit ihrem Streitverhalten weit über die Grenzen des Erträglichen hinaus. Mühsamer Streit mit Burschen beschränkt sich in aller Regel auf zweimal 15 Minuten in der Woche. Knaben tragen ihre Rivalenkämpfe in der Pubertät mehr in der Aussenwelt mit Gleichaltrigen aus, weniger zu Hause. Mütter von Töchtern zwischen 12 und 16 Jahren verdrehen die Augen und können ein Lied davon singen, himmelschreiende Teenies auszuhalten. Mädchen haben nicht selten fünf Mal in der Woche halbstündige emotionale Ausbrüche. Oft geht es schon beim Frühstück los, mit dem Satz: «Mama, die Butter ist zu hart!»

Das Gegenübertragungsphänomen

Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit, Konzentrationsstörungen, emotionale Verzweiflungsausbrüche, Fluchtgedanken und Essstörungen – das sind häufig beschriebene Emotionen von Müttern mit Jugendlichen in der Pubertät. In der Psychologie spricht man von einem klassischen Gegenübertragungsphänomen. Das heisst, die Jugendlichen übertragen ihre eigenen, altersgemäss typischen emotionalen Gefühle von Unbehagen und tiefem Elend unbewusst auf die Person, die ihnen nahesteht – und das ist meist die Mutter.

Tim kommt nach Hause, die Mutter fragt: «Wie war die Matheprüfung?» Tim brummelt was von einer Note 2 und geht seelenruhig zum Kühlschrank, holt ein Sandwich und haut ab zum Kollegen ins Nachbarshaus zum Gamen. Was passiert mit der Mutter? Sie hat schlotternde Beine und fragt sich: «Hilfe, wie schaffe ich die zweite Sekundarklasse?» Ein typischer Fall von einem fehlgeleiteten Gefühl. Woran können Mütter erkennen, dass sie in einem Gegenübertragungsphänomen gefangen sind? Indem sie sich fragt: «Bin ich hier eigentlich im falschen Film?»

Verhandeln, wenn sich die Gemüter beruhigt haben

Besser wäre, wenn die Mutter mit ihrem Sohn am Abend ein ernsthaftes Gespräch führen würde, das mit dem Satz beginnt: «Ich denke, du hast ein ernsthaftes Problem in Mathe, ich mache mir Sorgen um deine Zukunft.» Hier gilt die Empfehlung: «Schmiede das Eisen, solange es kalt ist», also mit dem Sohn oder der Tochter nicht verhandeln, wenn die Gefühlslage gerade im tiefroten Bereich blinkt, sondern erst dann, wenn sich die Gemüter wieder beruhigt haben.

Papa kommt um 18 Uhr gut gelaunt vom Büro nach Hause und wird schon bei der Begrüssung zugetextet: «Gehe mal zur 13-jährigen Drama-Queen ins Kinderzimmer und erkläre ihr, warum sie am nächsten Wochenende nicht alleine ans Openair Frauenfeld gehen darf.» Dort erfährt der Vater in aufgeregtem Ton von der genervten Tochter, dass die Mutter vermutlich wieder mal Wechseljahrbeschwerden habe, völlig verständnislos sei, die Jugend von heute nicht verstehe und im Übrigen die ganze Klasse ans Openair gehen dürfe. Er soll das jetzt bitte der Mutter beim Nachtessen schonend beibringen.

Frei-Zeiten und Paar-Inseln

Eltern müssen in diesen Zeiten bewusst Frei-Zeiten vereinbaren, Paar-Inseln schaffen. Ungestört vom Kinderlärm zusammen in einem Restaurant bei Kerzenlicht die Zweisamkeit zelebrieren. Eine Wanderung ausnahmsweise ohne die Jugendlichen machen. Auch ein kurzer Abendspaziergang im Quartier bringt seelische Nähe in die Paarbeziehung. Es hat noch keinem Jugendlichen geschadet, wenn es die Eltern zusammen lustig haben.

Ich sehe in meiner Praxis häufig Paare, die im letzten halben Jahr nie mehr zusammen im Ausgang waren, dies nicht, weil die Kinder noch zu klein wären, sondern weil in der Hektik des Alltags mit Jugendlichen in der Pubertät unmerklich die Zärtlichkeit und die Erotik untergegangen sind.

Jugendliche schätzen es, wenn Sie als Eltern mal einen Abend weg sind. Benützen Sie die neuen Freiräume. Gehen Sie einmal im Jahr eine Woche ohne Kinder in die Ferien. Melden Sie die Jungmannschaft für die Herbstferien in ein Ferienlager an. Doch wann sollen Eltern von Teenies noch Sex haben, werde ich oft gefragt. Unsere Jugendlichen gehen heute sogar nach uns ins Bett, da können wir uns nicht entspannen. Vor 25 Jahren hatten Herr und Frau Schweizer jeweils Sex am Samstagvormittag, wenn die Kinder in der Schule waren. Später feierten die Eltern ihre Liebe um 22 Uhr, aber dann kam die Newssendung «10 vor 10», und um 22.30 Uhr sind viele Paare schlicht zu müde für Sex. Jetzt bleibt nur noch der Samstagnachmittag übrig, wenn die Kinder mit Pfadfindern im Wald sind.

15 Minuten schaffen Intimität

Etwas liegt mir am Herzen – die tägliche Paar-Insel von rund 15 Minuten. Hier erzählt jeder Partner während etwa sechs Minuten, wie Sie oder Er den Tag erlebt hat. Einer hört zu und fasst anschliessend kurz zusammen, was Er oder Sie gehört hat. Dann ist der andere an der Reihe. Wichtig sind ein klar definierter Anfang und vor allem ein klarer Schluss. Wir Männer würden sonst nicht mitmachen.

Was verändert sich in der Partnerschaft, wenn Sie tägliche Paar-Inseln einführen? Selbst wenn Sie die Paar-Inseln nur dreimal in der Woche machen, steigert sich ein wichtiger Aspekt des Liebeslebens – die Intimität. Intimität bedeutet seelische Nähe – und seelische Nähe ist der meistgenannte Grund, warum Menschen überhaupt Liebesbeziehungen eingehen.

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