Die meisten Menschen denken, Sex sei ein bogenförmiger Akt. Er startet mit Küssen, steigert sich während der Penetration zum Höhepunkt und flacht rasch wieder ab. Vom Sofa über das Bett ins Bad. Von einer Mischung aus Lust und Pflicht über einen scheuen Anflug von Leidenschaft zur leisen Enttäuschung.
Menschen in der Schweiz haben im Schnitt einmal pro Woche Sex. Der Ablauf ist bei den meisten standardisiert, die Dauer entspricht ungefähr einer kurzen Netflix-Episode. Manchmal fasst eine Nachbesprechung am Schluss noch die gegenseitigen Bedürfnisse zusammen. Es wäre ehrlich, Sex in der Agenda einzutragen oder auf der To-Do Liste zu vermerken, doch eine diffuse Scham hält die meisten davon ab.
Pornos, Hollywood und Kotzbrocken
Aber wieso muss man immer alles hinterfragen? Nicht alle brauchen einen Spielzeugkasten oder das Kamasutra für ein erfülltes Sexleben. Tatsächlich ist am üblichen Muster nichts falsch, aber es ist eben auch nicht für alle richtig. Überraschend viele Menschen nehmen einen Orgasmus nicht als ekstatischen Erguss purer Freude wahr. Sie empfinden die Penetration als recht flauen Verkehr zwischen Geschlechtern. Und vor allem für Frauen sei der männliche Orgasmus nicht unbedingt der Höhepunkt des gemeinsamen Akts.
Bleiben Erwartungen lange unerfüllt, stellt sich eine chronische Unbefriedigung ein. Die meisten, denen es so geht, glauben, dass sie nicht gut sind im Bett, oder dass Sex halt einfach nicht so ihr Ding ist. Die stillen Enttäuschten suchen den Fehler in der Regel bei sich selbst, anstatt über den Tellerrand des angeblich alternativlosen Standards zu blicken.
Eine unvollendete Revolution
Die 68er befreiten die Lust. Sie gaben dem Glied und der Scham neue Namen und ermutigten die breite Masse, den eigenen und fremde Körper zu entdecken. Das führte einerseits zu einer kollektiven Erleichterung, aber andererseits auch zum trügerischen Glauben, dass die Sache nun erledigt war.
Spätestens seit in den letzten Jahren das Ausmass sexueller Belästigung ans Tageslicht trat, ist klar, dass die sexuelle Revolution entweder keine war oder unvollendet ist. Tatsächlich enttabuisierten die 68er nicht Sexualität als Ganzes, sondern nur eine bestimmte Art von Sex. Eine standardisierte Art, die jenen entsprach, die die Revolution anführten.
Die Anführer waren junge, männliche, heterosexuelle Akademiker, die später Hollywood eroberten, in grossen Firmen hohe Posten besetzten und im Porno-Business Regie führten. Der bogenförmige Akt ist also kein Zufallsprodukt und er ist auch nicht zufällig zum unantastbaren Standard geworden. Er ist das Resultat eines Machtgefälles, von dem viele Männer nach wie vor profitieren. Wenn er immer kommt und sie fast nie, liegt es auch an der Kultur.
Ergebnisoffen Liebe machen
Inzwischen haben wir uns so sehr an den Standard gewöhnt, dass es schwer fällt, Alternativen zu denken. Die Alternative sollte jedoch nicht einfach ein neues Muster sein, das das Alte ablöst. Echte Veränderung bringt die Bereitschaft zu ergebnisoffenem Sex, das heisst, zu wissen, was man will, um den Verlauf zu bestimmen, anstatt ihn lenken zu lassen. Nur, wie erfährt man, was man will?
Es gibt diese Momente im Alltag, wenn die Lust über einen hereinbricht. Das plötzliche Bedürfnis nach einem erotischen Abenteuer ist schwer kontrollierbar, aber kommt nicht zufällig vor. Es lohnt sich, die Situationen zu notieren. Es gibt unscheinbare Auslöser und in der Summe ergeben sich Zusammenhänge, die offenbaren, worauf man steht.
Viele, die lange Yoga machen, entdecken die eine Stellung, die sie zum heulen oder lachen bringt. Aus der Physiotherapie ist bekannt, dass die Massage einzelner Muskeln eine faszinierende Kombination aus Schmerz und Vergnügen hervorruft. Mit Matte, Faszienrolle, Körperlotion und Geduld lässt sich nicht nur dehnen, sondern auch entdecken, dass sich Sexualität und Selbstbefriedigung keineswegs auf die Geschlechtsorgane beschränken.
Die Dinge beim Namen nennen
Hat man eine Ahnung, welche Nerven besonders sensibel sind und welche Fantasien schlummern, folgt die nackte Wahrheit. Es führt kein Weg an der offenen Kommunikation vorbei. Auch wenn es sich anfangs so sexy anhört wie das Knattern eines Rasenmähers, man muss die Dinge beim Namen nennen. So werden alte Muster durchbrochen.
Selbstbewusstsein und Mut sind besonders im Bett schwierig und entsprechend selten. Wer den ersten Schritt macht und vom ausgetretenen Pfad abweichen möchte, setzt sich dem Risiko einer Abfuhr aus. Doch es lohnt sich, das Risiko einer grossen Enttäuschung einzugehen, um viele kleine Enttäuschungen zu vermeiden. Mut, Kreativität und Kommunikation werden im Bett die Revolution vollenden, die auf der Strasse begann.