Der Anblick Sterbender erschreckt. Sterben wirft Schatten der Angst weit über sich hinaus und vor sich her. Manche Angehörigen sind von einem Grauen gepackt, vorab dort, wo sie zuschauend nur die Aussenseite des Sterbens mitbekommen: den kläglichen Anblick, die halb geschlossenen Augen, den dürren Körper, den röchelnden Atem, die Endlosigkeit von Ausharren. Viele können nicht anders als hin- und wieder wegschauen. Hinterbliebene werden solche Bilder oft kaum mehr los.
Monika Renz, Dr. phil. und Dr. theol., Musik- und Psychotherapeutin, mutet uns in ihrem Buch «Hinübergehen – Was beim Sterben geschieht – Annährungen an letzte Wahrheiten unseres Lebens» viel zu. Wer ihr Buch liest, kann nicht mehr verdrängen, sondern hält atemlos inne, wird überwältigt von Gedanken und Gefühlen, die im gewöhnlichen Alltag keinen Platz haben, taucht ein in Dimensionen, die erschaudern lassen.
Ausserhalb von Schmerzen und Ohnmacht
Antworten gegen unsere Angst möchte Monika Renz geben. Mehr als 1000 Sterbende – nebst ähnlich vielen, die wieder ins Leben zurückkehrten – hat sie in ihrer Arbeit mit Krebskranken und deren Angehörigen in der Onkologie des Kantonsspitals St. Gallen, einem der grössten onkologischen und palliativen Zentren der Schweiz, begleitet. «Im Sterben und schon im Vorfeld geschieht mehr, als wir sehen», sagt sie. «Betroffenen und Angehörigen hilft zu hören, dass die Sterbenden irgendwann und immer wieder innerlich woanders sind: in einem neutralen bis schönen, jedenfalls anderen Zustand, fern vom Ich und ausserhalb von Schmerzen und Ohnmacht. Sterben ist leidvoll, aber auch eindrucksvoll und erhellend für den Sinn eines ganzen Lebens. Im Sterben und im Zusammensein mit Sterbenden rührt der Mensch an einem Bereich des äussersten Geheimnisses, wird berührt, staunt. Sterbende lehren uns viel über das Leben, über Gesetzmässigkeiten an den Rändern des Daseins.»
Die weltweit angesehene Pionierin der Sterbeforschung und der spirituellen Begleitung Schwerkranker führt den Leser mit Respekt und Ehrfurcht hinein in eine neue, suchende, staunende, manchmal betende Offenheit auf das Unfassbare hin. Die sokratische Erkenntnis «Ich weiss, dass ich nichts weiss» führe von innen heraus weg von der Verherrlichung des Egos und Vermessenheit eigenmächtiger Grenzüberschreitung hinein in die aufrechterhaltene existenzielle Unsicherheit. Monika Renz geht von einer hintergründigen Ordnung, von einem Ganzen aus: «Wir haben Teil an diesem Ganzen. Unsere Entwicklungswege sind mit dem zu Ende gehenden Einzelschicksal nicht einfach erfüllt. Der Mensch scheint auch im Tod eingebunden in ein grösseres Werden. Er ist, in einem alttestamentlichen Bild gesprochen, Teil eines alle Völker umfassenden Volkes, das zum heiligen Berg pilgert.»
Vom Kampf zum Frieden
Reaktionen Sterbender würden uns bisweilen erahnen lassen, ja vermuten, dass dasjenige, dem sie entgegengehen, auch Erfüllung beinhaltet, und zwar jenseits von Zeit und Raum. «Ihren letzten Visionen und Reaktionen folgend, meine ich, bestimmte Ahnungen von letzten Dingen und Wandlung im Daraufhin zu erkennen», fasst Monika Renz ihre tausendfachen Beobachtungen am Sterbebett zusammen. Vieles deute auf eine Daseinsweise der Gleichzeitigkeit und Zeitlosigkeit, also eine Art Ewigkeit hin. Das Gefühl für Körper, Schwerkraft und Begrenzung im Eigenen verliere sich. Renz beobachtet ein unbegrenztes Sein und Bezogen-Sein. Sie beschreibt das Bild der menschlichen Teilhabe am Seienden. Wertungen wie gut und böse fallen weg. Das Unbewusste und das an das Ich gebundene Bewusstsein führen hinein in eine neue Art zu sehen. Das Drängende geht über zum Erfüllten, das Suchen und Warten zum Finden. Vom Kampf zum Frieden und Ziel, von Angst zum Vertrauen.
Renz ist sich bewusst, dass sie mit solchen Aussagen auch provoziert. Das Buch legt nahe, dass nach dem Tod etwas kommt. «Gleichzeitig kann dieses Etwas aber auch das gänzlich Unbekannte, sogar das Nichts sein. Ob wir glauben oder zweifeln, dieses Etwas bleibt unserem Auge verborgen.» Unabhängig von der Frage, ob da etwas komme, ist für die Sterbebegleiterin bei vielen Sterbenden fast sichtbar, dass sie einmal oder mehrfach eine innere Bewusstseinsschwelle überschreiten und sich dabei ihre Wahrnehmung verändert. «Sie verlassen schon vor ihrem Tod unser Empfinden in Raum und Zeit, in ‹Ich› und ‹Du›, und sie tauchen immer wieder in eine gänzlich andere Erlebnisweise ein. Die Erfahrungen beschreiben meist eine auffallend friedliche bis sogar heilige Atmosphäre, sie erzählen von Liebe und Licht.»
Mehr als ein körperliches Ableben
Renz betont, dass sie nicht zwingend den Glauben an ein Jenseits voraussetze. Sie wolle kein Glaubensdogma formulieren, sondern eine Auseinandersetzung mit den Gesetzmässigkeiten des letzten Übergangs ermöglichen. Ihre grundlegend neue These lautet: «Sterbende durchlaufen eine Wahrnehmungsverschiebung und einen Übergang. Im Zugehen auf den Tod tritt nicht nur das Ich, sondern auch die uns selbstverständliche subjekthafte, Ich-bezogene Wahrnehmung – was ich wollte, dachte, fühlte, alle Bedürfnisse im Ich, Ängste im Ich – in den Hintergrund. Eine andere Welt, ein anderer Bewusstseinszustand, andere Sinneserfahrungen und eine andere Erlebnisweise rücken in den Vordergrund, und all dies unabhängig von Weltanschauung und Glaube. Der Tod als Tor hinein in einen Bereich, über den wir nichts wissen, scheint bereits im Vorfeld des Todes wirksam zu werden und eine fundamentale Wandlung der menschlichen Persönlichkeitsstruktur und des menschlichen Bewusstseins voranzutreiben. Das Geheimnis des Todes ist, den Reaktionen Sterbender zufolge, ebenso anziehend wie furchtauslösend, und vor allem unumgänglich. Sterben beinhaltet mehr als ein körperliches Ableben, mehr auch als ein seelisch-geistiger Zerfall. Hier ereignet sich etwas, das sich dem Auge des Zuschauens entzieht.» Das ist zugleich Renz’ wichtigste Antwort gegen unsere Angst – etwa vor Schmerzen und Ohnmacht: Mit der Wahrnehmungsverschiebung sind Menschen nicht mehr in ihrem Schmerz drin.
Ich-Tod
Dem eigentlichen Tod scheint ein Ich-Tod vorauszugehen. Mit dem Ich-Tod meint Renz den Untergang im Ich. «Nicht nur geht das Ich verloren, sondern auch alles, was an dieses Ich gebunden war und zu diesem Ich gehörte. Alles Wahrnehmen bezogen auf ein Ich, alles Empfinden als ein Ich – ich habe Angst, Freude, Hunger – alles kommt an ein Ende. Das Ich als Subjekt aller Wahrnehmung und allen Denkens wird unwesentlich. Stattdessen taucht der auf sein Sterben zugehende Mensch ein in Zusammenhänge und Wahrnehmungen von ganz anderer, ganzheitlicher Art.» Mit ganzheitlich meint Renz das Ganze schlechthin, welches Materie und Energie, Schöpfer, Schöpfung und Geschöpf umfasst. Ein anderer Begriff für das Ganze sei das Göttliche.
Die Annäherung der Sterbenden ans geheimnisvolle Ganze geschehe nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft, meist in mehrfachem Hin und Her, Vor und Zurück. Der Prozess führe durch Krisen hindurch. Doch der Sterbeprozess bleibe nicht am Tiefpunkt stehen, sondern führe von innen heraus in ein Neues, Künftiges. «Gerade die Sterbenden vermitteln uns eine Ahnung darüber, was jenseits dieser unsichtbaren Bewusstseinsschwelle und ausserhalb der Zone des Ichs geschieht. Einige künden staunend von etwas Unbeschreiblichem: ‹Grün, so wunderbar!›. Andere formulieren die Übergangsbefindlichkeit – und dies in durchaus abstrakten Worten wie ‹Durchgang›, ‹leer›, ‹eng›. Sie erleben solches auch in Bildern wie etwa ‹Ich falle› oder in apokalyptischen Dimensionen: ‹Das Schwarz frisst mich auf.› Auffällig ist, dass die Übergangsbefindlichkeit nicht Endstation zu sein scheint: ‹Jetzt wird das Schwarz von den Engeln besiegt.› Viele Sterbende werden irgendwann und immer wieder – unverstehbar – einfach friedlich. Bisweilen geht ein inneres Leuchten von ihnen aus.»
Liebe, Friede, Ehrfurcht
Was in solchermassen Ich-fernen Zuständen geschehe, so das Fazit von Monika Renz, habe am ehesten zu tun mit dem Phänomen der Wahrnehmung – ähnlich und doch anders wie bei Nahtoderfahrungen. Dimensionen von Zeit und Raum können sich so stark verändern, dass das Ich weder folgen noch verstehen könne. «So gibt es Erfahrungen von Gleichzeitigkeit und Zeitlosigkeit, von der Überwindung aller räumlichen Begrenzung und zeitlichen Einengung. Dann erfahren Menschen eine eigentümliche Freiheit, einen überpersonalen Sinn, ein Licht oder eine Atmosphäre von Liebe, Friede und Ehrfurcht. Kurz davor und danach aber ist es, wie wenn das Neue noch nicht da und das Alte schon weit weg wäre – ein Zwischenzustand. Das löst Angst und Verwirrung aus, denn es geht um die Existenz. Wenn die Sterbenden dann aber innerlich eintreten in den Bereich des Unaussprechlichen, vielleicht Heiligen, ändert sich die Atmosphäre. ‹Unglaublich schön›, stammeln etliche. Geht es gar um eine Begegnung mit dem zutiefst Ehrfurchtgebietenden, hören Patienten im Traum etwa die Worte: ‹Hier musst du deine Augen schliessen›, ‹hier musst du dein Gewand ablegen›, ‹Du erhältst die heilige Rolle›. Man ist erinnert an die heiligen Schriften des Alten Testamentes.»
Die sich verändernde Wahrnehmung, der Übergang vom Ich zum Sein, von der Ich-Befindlichkeit zu einem umfassenden Angeschlossen-Sein ist nach der Erfahrung von Monika Renz der primäre seelisch-geistige Prozess im Sterben. «Alle tiefere Kraft der Sterbenden scheint unsichtbar auf das Bestehen dieser Herausforderung fokussiert zu sein.»
„Davor“, „Hindurch“, „Danach“
In ihrem Buch beschreibt die Sterbeforscherin im Detail, wie die Wandlung vom Ich zum Sein in den drei Stadien «Davor», «Hindurch» und «Danach» abläuft. Das «Danach» – nach dem Überschreiten der Schwelle – sei aber nicht als Jenseits zu begreifen, sondern als äusserster Zustand noch im Diesseits. Über ein Jenseits weiss auch Monika Renz nichts. Ihr Buch versteht sie dennoch als Annäherung ans ewige Geheimnis, zwischen dem radikalen Ernst nehmen der Zeugnisse Sterbender und den metaphorischen Aussagen von Religionen über Eschatologie, also über die Lehre von den letzten Dingen.
Packend, ja geradezu fesselnd und oft auch erschütternd ist das Kapitel über die Urangst. Renz findet mutige und faszinierende Antworten: Das Ich stirbt in ein Du hinein. Urangst ist ein Übergangsphänomen: An der Schwelle, wo das Ich im Begriff ist, sich aufzulösen, entsteht unweigerlich die Erfahrung eines unbeschreiblich grossen Nicht-Ichs. Es wird auch erlebt als göttliches Gegenüber, und dies unabhängig von Weltanschauung und Interpretation. Das Ich erfährt und fürchtet – ob gläubig oder nicht – aufgrund seiner veränderten Wahrnehmung die Schwingungswelt um sich herum bisweilen als ein vernichtendes, unfassbares Du. Renz führt einleuchtende Bilder und Metaphern aus der Bibel – Jona wird vom Fisch verschlungen – und der Welt der Märchen an, um diese Schwellenangst zu beschreiben.
Ausserhalb des Ichs keine Angst
Weil Angst aber grundsätzlich an das Ich gebunden ist, gibt es tröstlicherweise ausserhalb des Ichs auch keine Angst. Auch das ist nicht einfach Theorie, sondern hundertfache Beobachtung von Renz. Sie selbst lernte es von den Sterbenden: «Angst ist Bestandteil des Lebens, aber nicht unbedingt des Seins.» Angst gehört zur Daseinsweise im Ich, aber nicht unbedingt zu jener des Drin-Seins in einem Grösseren, Ganzen oder des letztlichen Bezogen-Seins. Theologisch gesprochen stirbt der Mensch in seinem Ich, fällt durch die schauerliche Erfahrung mit dem unfassbar Grossen hinein in Gott. Danach ist das Sein, das Seiende. Der Mensch stirbt in ein atmosphärisches Du, das zugleich das Seiende ist, hinein. In Anlehnung an Mose: in den «Ich-bin-der-ich-bin» hinein. Geheimnis schlechthin.
Die Annährungen von Monika Renz an die letzten Wahrheiten unseres Lebens gewähren einen tiefen, oft abgrundtiefen Einblick in das, was wir gewöhnlich mit aller Macht verdrängen, das Sterben. Was am Ende bleibt, sind jedoch nicht Angst und nicht Schrecken, sondern Trost: Die Überfahrt ist beendet. Das Gesuchte ist gefunden. Heimkehr findet statt. In die ewige Stadt. Neue Kleider aus feinstem Linnen. Das Festkleid ist vom Himmel geschenkt. Behütet-Sein, Teil-Sein. Der Regenbogen. Der Fluch ist gebannt, das Unerlöste gelöst. In Bildern von Sterbenden ist vielleicht «ein Engel da», «ein dunkles Licht», «eine unbeschreibliche Musik», «der verstorbene Vater», «ein Tanz», «die Hochzeit», «das Essen». Viele, sehr viele Sterbende sind einfach still. Da ist Fülle und Friede.
Monika Renz
Hinübergehen
Was beim Sterben geschieht
Annäherungen an letzte Wahrheiten unseres Lebens
Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016, ISBN 978-3-451-06788-4
Dying: a Transition
Columbia University Press, New York, 2015, ISBN 9-780231-170888-8
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