Drei Jahre vor der definitiven Diagnose kam mein Mann eines Tages nach Hause und sagte: „Ich habe mich zu einer Abklärung beim Hausarzt angemeldet – ich glaube, ich habe Alzheimer.“ Der Hausarzt überwies ihn zur Abklärung in die Memory Klinik im Kantonspital St. Gallen. Der Test fiel schlecht aus. Er hatte zu dieser Zeit sehr grosse Probleme mit seinem neuen Chef. Diese Situation belastete ihn sehr. Die Diagnose lautete nicht Demenz, sondern eine schwere Depression. Sein Kopf wurde geröntgt und die Hirnströme gemessen. Der Befund war ein leicht höherer Hirnabbau als dem Alter entsprechend; dies sei dem Rauchen und dem Alkoholgenuss zuzuschreiben. Das Gespräch beim Hausarzt verlief nicht optimal, da er alles seinem Lebensstil zuschrieb und ihn mit Vorwürfen entliess. Bei mir löste alles ein sehr negatives Gefühl aus. Jetzt auch das noch! Reichte es nicht, dass das Ehe- und Familienleben schon genug unter seinem Lebensstil gelitten hatte.
Wir wollten die Veränderungen einfach nicht sehen
Nach drei Jahren machten wir nochmals alle Abklärungen beim Neurologen und in der Memory Klinik. Ich war jedes Mal dabei. Es ist sehr wichtig, dass die nächsten Angehörigen alles genau mitbekommen und jeder Schritt ihnen sorgfältig erklärt wird. Da mein Mann schon früher ein sehr introvertierter Mensch war und man mit ihm keinen richtigen Dialog führen konnte, fielen seine Wortfindungsstörungen kaum auf. Er überbrückte seine Störungen sehr geschickt. Wir jedoch haben seine Veränderungen schon bemerkt, da er sich in vielen Sachen positiv veränderte. Wir übersahen sie oder wollten es einfach nicht sehen. Er half im Haushalt, wo er nur konnte. Ich war im Haus, wo wir wohnten, Hauswart. Er wischte den Hausplatz, wenn auch mehrmals die Woche. Er wollte überall mitkommen und kümmerte sich fürsorglich um mich, was ich nicht gewohnt war. Wem gefällt das schon nicht? Er wollte mitten in der Nacht Brot einkaufen, da er zum Teil auch das Zeitgefühl verlor. Im Nachhinein stellte es sich heraus, dass das der Anfang seiner Krankheit war. Da kämpfte ich Jahre um ein liebevolles Eheleben und meinte, ich hätte ein bisschen davon erreicht, und dann kam diese Enttäuschung. Er vernachlässigte sich; das Zähneputzen klappte nicht mehr richtig, er liess den Hausschlüssel stecken, erledigte Sachen zur falschen Zeit und den Abfall entsorgte er beim Nachbarn. Ich fragte am Arbeitsplatz nach, ob auch ihnen etwas aufgefallen sei, da er sich des Öfteren verletzte, er Mühe hatte, den Unfallschein auszufüllen und geschweige im Stande war, dem Arzt Auskunft zu erteilen, wie das ganze passiert ist. Ich habe die Nachfrage beim Arbeitgeber immer wieder hinausgeschoben, da ich befürchtete, dass sie mir einen negativen Bescheid geben und mein Mann nicht mehr zur Arbeit gehen kann. Ja, sie hätten es bemerkt und würden ihm keine anspruchsvollen Arbeiten mehr zuteilen. Nach vierzig Jahren Betriebsunterhalt konnte er natürlich auch da noch lange seinen Zustand überdecken. Ich denke, dass er zu dieser Zeit sehr gelitten hat. Er kam sehr oft aufgewühlt nach Hause und war erschöpft. Nach drei Autounfällen, Telefonleitungen anbohren sowie Motor falsch zusammenbauen mussten wir das Arbeitsverhältnis auflösen.
Ich konnte ihm keine Zuneigung mehr geben
Ich war zwar enttäuscht und es war traurig zu sehen, was mein Mann alles nicht mehr konnte, aber zugleich war ich auch froh, von Fachleuten zu hören, dass er die Vorgänge nicht mehr verstehen kann, denn manchmal sah es so aus, als wolle er einfach nicht. Jetzt waren sie sich sicher, dass es sich um eine Frontotemporale Demenz handelt. Es war sehr schlimm, die Diagnose zu hören, und dass es kein Medikament und keine Therapie gäbe, den Verlauf zu verzögern. Die Ärztin erklärte mir, dass ich mich langsam von meinem Mann verabschieden müsse, da sich sein Zustand verändere. Da passierte in mir etwas, was ich dazumal nicht verstehen konnte, aber einfach geschehen lassen musste, da dies nur zu meinem Schutz war. Von da an war ich nicht mehr seine Frau, sondern seine Pflegerin, und dies tut mir im Nachhinein sehr leid, da ich ihm die Zuneigung nicht mehr geben konnte. Ich denke, ansonsten hätte ich all das nicht ausgehalten. Auch war es für mich ein bisschen leichter, den Zustand zu ertragen, weil wir eine etwas andere Partnerschaft führten – eine Beziehung ohne grosse Worte.
Zeichnen, malen, Puzzles und Schrauben sortieren
Die Ergotherapie sollten wir als Beschäftigung ansehen, was ihm auch Freude bereitete. Er blieb drei Monate lang zuhause, und in dieser Zeit konnte er noch ein 1000 Puzzle mit einer sehr grossen Geduld zusammensetzen. Danach durfte er neun Monate in einem Behindertenheim arbeiten, was für ihn nicht ideal war, da die Betreuer nicht für Demente ausgebildet waren und die Geduld sowie das Verständnis für die Krankheit fehlten. Da mein Mann sich sehr gerne beschäftigte, suchte ich einen Platz, wo sie den Umgang mit Dementen gewohnt waren. Ich meldete ihn in der Klinik in Wil für einen Bastelnachmittag einmal in der Woche an. Leider war auch dies nicht erfolgreich, da er immer nach Hause wollte und ich ihm den Stress nicht zumuten wollte. Also beschäftigte ich ihn weiterhin zuhause mit zeichnen, malen, Puzzles und Schrauben sortieren. Einmal im Monat trafen wir uns mit Hirngeschädigten zum Malen. Dies tat er sehr gerne, und er wusste auch immer in welchem Zimmer das Malen stattfand. Für mich waren Besuche sehr anstrengend, da er immer davon laufen wollte. Ich informierte unser Umfeld recht früh, was meistens gut ankam und das nötige Verständnis entgegen brachte.
Ich besuchte Kurse und Seminare für pflegende Angehörige, so dass ich sein Verhalten ein bisschen mehr verstehen und damit besser umgehen konnte. Wenn man einen Zustand akzeptiert hatte, wartete schon die nächste Verschlechterung und löste grosse Angst aus, was noch kommt. Ich weiss nicht, was ich gemacht hätte, wenn ich am Anfang den ganzen Verlauf gesehen hätte. Mit der Zeit wurde er auch inkontinent, was für Angehörige sehr herausfordernd ist. Den Ehemann und Vater zu waschen und zu säubern – an diesen Zustand muss man sich zuerst gewöhnen.
Spaziergang auf der Autobahn A1
Er erledigte auch zuverlässig Botengänge, Briefe zur Post bringen etc. Eines Tages brachte er einen Brief zur Post, der nach St. Gallen adressiert war. Den Brief gab er ab – und danach lief er auf der Autobahn Richtung St. Gallen. Ich durfte ihn auf dem Polizeiposten abholen und hatte grosse Angst, der Polizist beschimpfe mich, ihn alleine auf die Strasse zu lassen. Am selben Tag hatte ich eine Unterhaltung mit der Krankenkasse. Man sagte mir, dass die Betreuung nicht kostenpflichtig sei und dass ich die Kosten selber übernehmen müsse. Der Polizist meinte, bei dieser Krankheit könne dies vorkommen, er war informiert, da mein Mann den Alzheimerausweis auf sich trug. Ich erklärte ihm, dass er laut Krankenkasse nicht krank sei, da die Betreuung nicht als Pflichtleistung anerkannt sei.
Es tat weh, allein gelassen zu werden
Da ich noch 40 Prozent arbeitete und ich meinen Mann nicht mehr alleine zuhause lassen konnte, bekam ich ein grosses Problem. Wer beaufsichtigt ihn während meiner Abwesenheit? Ich wollte meine Arbeit, die für mich eine Abwechslung war, nicht aufgeben. Ich beauftragte die Pro Senectute für den Morgen, und am Nachmittag übernahmen die Betreuung meine Schwester oder meine Schwägerin. In dieser schweren Zeit stellte ich auch fest, dass sehr viele Menschen mit der Krankheit nicht umgehen konnten und sich zurückzogen. Die Frage, die ich mir immer wieder stellte: Ja, aber mich fragt auch niemand, wie ich das ertragen kann.“‘ Dies tat noch viel mehr weh, allein gelassen zu werden.
Neue Wohnung – neue Herausforderungen
In der Zwischenzeit wird zur Aufklärung viel getan, was sicher auch den Angehörigen hilft. Auch gibt es immer mehr Angehörige-Selbsthilfegruppen für jüngere Patienten. Zu meiner Zeit waren es ältere oder zum Teil Angehörige von verstorbenen Patienten. Da die Krankheitssymptome sehr verschieden sind und mein Mann nicht mehr sprechen konnte, war der Umgang mit ihm sehr anstrengend, und ich fühlte mich zum Teil sehr hilflos. Ich habe keinen Arzt getroffen, der mir beim Umgang im Alltag mit Dementen behilflich sein konnte. Wir mussten uns eine rollstuhlgängige Wohnung suchen, daher kauften wir eine Eigentumswohnung mit Garten. Dies war für mich schon immer ein Lebenstraum, es lenkte mich ab, und ich hatte aber auch eine neue Herausforderung. In der neuen Gemeinde konnte ich die Pflege Betreuung nicht mehr über die Pro Senectute erledigen lassen, da die Gemeinde keinen Vertrag mit der Pro Senectute hatte und ich den Gemeindebeitrag auch noch hätte übernehmen müssen. So blieb mir nichts anderes übrig als den Pflegekurs des SRK zu besuchen – was mich sehr erfüllte und ich jederzeit wieder machen würde – und mich über eine private Spitex anstellen lassen, weil die Gemeinde keine Angehörigen anstellte. So bekam ich wenigstens zwei Stunden für die Pflege bezahlt und konnte das Geld für die Betreuung einsetzen. Grosszügigerweise übernahmen die zwei gleichen Frauen von der Pro Senectute die Betreuung, und mein Mann musste sich nicht wieder an neue Gesichter gewöhnen. Er fand sich erstaunlicherweise in der neuen Wohnung sehr gut zurecht.
Ein Heim hätte das Problem nicht gelöst
Acht Monate, bevor mein Mann gestorben ist, stürzte er auf der Strasse. Sein Zustand verschlechterte sich, vor allem körperlich. Das Gehen viel ihm immer schwerer, er wusste nicht mehr wie man aufsteht, ins Bett liegt, am Morgen die Augen öffnet. Das Gleichgewicht war gestört, und die Krankheit Parkinson kam auch noch dazu. Ich war oft hilflos und überfordert, aber ich getraute mich nicht zu jammern geschweige zu weinen, denn die Antwort kannte ich, sie müssen nicht, sie dürfen ihren Mann auch in ein Heim geben. Für mich wäre das Problem nicht erledigt gewesen, so wie ich mich kenne, wäre ich die grösste Zeit bei ihm im Heim gewesen und hätte ein schlechtes Gewissen gehabt. Auch wäre dann noch zusätzlich das Finanzielle zu einem grossen Problem geworden, ich hätte nicht einmal meinen kleinen Zahltag behalten dürfen.
In Frieden und ohne Angst und Schmerzen gehen lassen
Ich durfte meinen Mann zehn Tage meiner Schwester überlassen und in die Ferien gehen. Meinem Mann ging es immer schlechter. Jetzt war es auch mal wichtig, für mich zu sorgen, da ansonsten auch mir die Kraft ausgehen würde. Als ich nach Hause kam, war sein Gesundheitszustand so schlecht, dass wir ihn ins Spital einliefern mussten. Da mein Mann schon vier Monate vorher einen Infekt hatte, und wir uns da schon Gedanken machen mussten über lebensverlängernde Massnahmen, war es für uns klar, wie es weiter gehen sollte. Da ich von meinem Mann wusste, dass er so nicht weiterleben wollte – er konnte nicht mehr essen, trinken, sich bewegen, geschweige seine Schmerzen mitteilen – war es unser Wunsch, ihn in die palliative Abteilung zu verlegen. Zuerst fanden wir bei der Ärztin kein Verständnis. Nach ausführlichem Gespräch und dem Wunsch, dass wir meinen Mann und Vater in Frieden und ohne Angst und Schmerzen gehen lassen möchten, willigte sie ein. Wir durften vier Tage lang jederzeit bei ihm sein, ihn begleiten und unterstützen. Das Personal war sehr hilfreich und mitfühlend. Ich bin sehr froh, dazumal den Mut gehabt zu haben, diesen Entscheid zu fällen. Die palliative Abteilung kann ich nur weiterempfehlen.
Eine Krankheit verändert das Umfeld
Nach seinem Tod meldeten sich viele Personen, von denen ich vorher wenig bis gar nichts mehr gehört hatte, und fragten, wie es denn mir gehe. Ich war einfach nur erleichtert und froh, dass alles vorbei war und mein Mann sicher keine Schmerzen mehr hatte. Die Personen, die uns begleiteten, konnten es verstehen, und die anderen interessierten mich nicht mehr. Die Krankheit verändert die Angehörigen, und ich hätte die Hilfe und Zuneigung vorher benötigt. Darum wünsche ich jedem Betroffenen, dass er Hilfe von seinem Umfeld erhält, so wie ich es im kleinen Rahmen und ohne Erwartungen erhalten hatte. Ich kann die Entschuldigung, ich kann damit einfach nicht umgehen, auch heute nicht akzeptieren.
Es fehlt das Verständnis für die Krankheit
Danach arbeitete ich neun Monate lang in einem Pflegeheim. Was ich da zu sehen bekam, wie die Pflegenden zum Teil mit den Dementen umgegangen sind, liess mich erschrecken. Da schreiben sie, wir besitzen eine Demenzabteilung. Der Unterschied zur gewohnten Abteilung war, dass man die Türe abschliesst. Es steht den Pflegenden viel zu wenig Zeit zur Verfügung. Das Personal ist viel zu wenig für Demente ausgebildet. Oft werden die Kranken auch nur mit Medikamenten sediert, damit man leichter mit ihnen umgehen kann. Viele Abende war ich einfach nur traurig über ein so grosses Unwissen und Unverständnis gegenüber den Bewohnern. Ich möchte damit nicht sagen, dass ich alles richtig gemacht habe. Im Nachhinein würde auch ich vieles anders machen. Ich denke, auch mir als Laie fehlte das Wissen und Verständnis für diese Krankheit. Die heutigen Angehörigen sollten viel mehr Unterstützung erhalten.
Die Frontotemporale Demenz
Bei dieser Form von Demenz findet der Abbau von Nervenzellen zunächst im Stirn- und Schläfenbereich des Gehirns statt. Von hier aus werden unter anderem Emotionen und Sozialverhalten kontrolliert. Frontotemporale Demenzen treten normalerweise früher auf als die Alzheimer-Krankheit, meistens schon zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr oder noch früher. Bei fast allen Patienten fallen zu Beginn der Erkrankung Veränderungen der Persönlichkeit und des zwischenmenschlichen Verhaltens auf. Dazu zählen Aggressivität, Taktlosigkeit, massloses Essen aber auch Teilnahmslosigkeit. Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu Störungen der Sprache, die sich in Wortfindungsstörungen, Sprachverständnisstörungen und fehlendem Mitteilungsbedürfnis bis zum völligen Verstummen äußern. Im weiteren Verlauf kommt es zur Beeinträchtigung des Gedächtnisses, die lange Zeit aber nicht so stark ausgeprägt ist wie bei der Alzheimer-Krankheit. Die Diagnostik der Frontotemporalen Demenz kann schwierig sein. Weil zu Beginn der Erkrankung Veränderungen der Persönlichkeit und des Verhaltens im Vordergrund stehen, kommt es nicht selten zu Verwechslungen mit psychischen Störungen wie Depression, Burn-out-Syndrom, Schizophrenie oder Manie. Das Zusammenleben mit einem Patienten, der an einer Frontotemporalen Demenz leidet, bedeutet für die Angehörigen eine enorme Belastung. Vor allem sind es die Verhaltensauffälligkeiten, besonders Aggressionen, enthemmtes Verhalten und Unberechenbarkeit der Patienten, die den Angehörigen zu schaffen machen.