Peter Sonderegger, 47, arbeitet bei der Dienststelle Volksschulbildung des Kantons Luzern, vorher mehr als zehn Jahre als Schulpsychologe. Er hat einen heissen Draht in die Klassenzimmer, kennt den Inhalt der Gespräche in den Lehrerzimmern und weiss über die Forderungen der Eltern Bescheid, wenn es um deren schulpflichtige Kinder geht.
Der Aufschrei, welcher nach der PISA-Studie durch die Bildungslandschaft hallte, liegt ihm noch im Ohr. Peter Sonderegger hat miterlebt, wie in den Volksschulen längst fällige Reformen eingeleitet und umgesetzt wurden. Der Prozess ist nicht abgeschlossen und kann auch nicht abgeschlossen werden, da sich die Gesellschaft und deren Bedürfnisse und die Kinder stetig wandeln. Und das wird auch von der Schule verlangt: Sie muss sich den aktuellen Anforderungen anpassen.
Wie weit darf die Vermischung von ökonomischen Interessen und pädagogischen Werten gehen? Werden seit PISA die Lehrpläne etwa von den Wirtschaftsbossen geschrieben?
Peter Sonderegger: Die Schule soll aufs Leben vorbereiten. Sie soll jene Kompetenzen vermitteln, die es braucht, um in der heutigen und zukünftigen Welt bestehen zu können. Die Bedürfnisse, die das Leben an die Mitglieder der Gesellschaft stellt, sind selbstverständlich auch durch die Wirtschaft verursacht. Zum Beispiel gibt es heute kaum mehr einen Job, den man auf Lebenszeit innehat. Dem muss die Schule Rechnung tragen. Auf der anderen Seite muss sie als pädagogische Institution auf die Eigenheiten und Bedürfnisse der Kinder eingehen, und die Kinder dort abholen, wo sie stehen. Und dann mit ihnen das Ziel des «Erwachsenwerdens», welches die Teilhabe an der Gesellschaft mit allen ihren Möglichkeiten und Rechten, aber auch Pflichten beinhaltet, anstreben. So schafft sie die Grundlage für das Weiterbestehen einer Gesellschaft.
Wie stark kann die Schule Aufgaben der Gesellschaft übernehmen?
Das ist eine grosse und kontroverse Diskussion. Die Schule hat einen Bildungs- und Erziehungsauftrag. Zwischen Erziehung und Bildung ist keine klare Trennung möglich. Andererseits kann die Schule auch nicht alle aktuellen Probleme lösen, obwohl sie in der Regel immer auch von den gesellschaftlichen Entwicklungen mit betroffen ist. Die Frage betreffend Erziehung und Bildung hat sich in den letzten Jahren deutlicher gestellt.
Warum?
Weil die Ideen, Haltungen und Werte der Schule und jene der Eltern näher beieinanderlagen. Heute ist die Heterogenität der Eltern mindestens so gross wie diejenige der Schüler.
Ist das schlecht?
Es hat früher mehr allgemein akzeptierte Werte gegeben, die zum Beispiel auch von der Kirche vertreten wurden. Heute herrscht ein grosser Wertepluralismus, verbunden mit verschiedenen Erziehungsstilen der Eltern. Es kommt vor, dass sich die Erziehungsvorstellungen der Eltern und jene der Schule nicht decken. Für die Lehrpersonen ist vieles schwieriger geworden, weil sie mitunter genau beobachtet werden. Den Kindern wird gesagt, sie sollen sich wehren, und das tun sie nun auch. Zum Beispiel bei der Notengebung. Zu unseren Zeiten war es nicht üblich, einen Lehrer zu korrigieren. Heute gucken auch die Eltern ganz genau auf die Prüfungsresultate ihrer Sprösslinge. Vor 30 Jahren wurden nur die ganz schlechten Noten zum Unterschreiben nach Hause gegeben. Man dachte, mit Druck würden die Schüler dann bessere Noten schreiben. Heute lässt man alle Prüfungen von den Eltern unterschreiben. Und sichert sich damit natürlich auch bis zu einem gewissen Grad ab.
Muss man das?
Die Menschen sind heute kritischer und weniger autoritätsgläubig. Das ist grundsätzlich positiv. Zudem leben wir auch in einer sehr individualistischen Gesellschaft. Das Wohlergehen des Individuums steht ganz oben. Bei Konflikten in der Schule geht es meist um Partikularinteressen, nämlich darum, das Beste für das eigene Kind zu erreichen.
Hat das nicht in erster Linie mit dem Bildungsstand der Eltern zu tun? Wer einen verantwortungsvollen Job mit Führungsfunktion hat und gewohnt ist, Dinge zu bestimmen, wird das auch in schulischen Angelegenheiten tun, die seine Kinder betreffen.
Wir haben es heute tatsächlich nicht nur mit mündigeren Schülern, sondern auch mit mündigeren Eltern zu tun, die in vielen Fachbereichen mitdiskutieren können und wollen. Eltern und Schüler getrauen sich auch mehr. Für die Lehrpersonen kann das befruchtend, aber auch unangenehm sein. Es ist nicht immer einfach, die Grenze zu finden. Das andere Extrem sind jene Eltern, die sich gar nicht um ihre Kinder kümmern und ihren Erziehungsauftrag nicht wahrnehmen. Diese Eltern bereiten der Schule auch Schwierigkeiten, weil eine Zusammenarbeit zum Wohle des Kindes nicht möglich ist.
Haben Kinder von weniger gebildeten Eltern weniger Chancen?
Je besser die Eltern gebildet sind, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder in der Schule auch erfolgreich sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einer Akademikerfamilie auch eine akademische Laufbahn macht ist höher. Auf der anderen Seite zählen Knaben aus bildungsfernen Schichten mit Migrationshintergrund zu einer heiklen Gruppe. Ich glaube aber, dass die Chancengerechtigkeit heute grösser ist, weil die Schülerinnen und Schüler mit mehr Massnahmen und früher gestützt werden können. Bildung ist somit demokratischer geworden. Allerdings darf man nicht vergessen: Förderung allein macht nicht den ganzen Unterschied. Intelligenz ist auch genetisch bedingt. Wenn die Anlage nicht vorhanden ist, stösst die beste Förderung an ihre Grenzen. Die Lehrpersonen haben eine grosse Verantwortung. Sie müssen unter anderem erkennen, wo versteckte Talente und Begabungen schlummern. Untersuchungen zeigen: Am ehesten nicht wahrgenommen oder entdeckt werden hohe Begabungen bei Mädchen mit Migrationshintergrund.
Wird von den heutigen Kindern in der Schule mehr verlangt als noch von ihren Eltern?
Die Schule verlangt von den Schülern ähnlich viel wie früher. Selbstverständlich andere Inhalte, aber nicht grundsätzlich mehr. Ein wesentlicher Unterschied zu früher ist, dass heute mehr Selbstverantwortung und Selbststeuerung gefragt sind. Genau das wird ja auch gefördert. Heutige Kinder und Jugendliche können sich in der Schule viel mehr einbringen als ihre Eltern. Aber der Druck, den die Eltern heute machen, ist grösser. Zum Beispiel beim Übertritt in die nächste Schulstufe. Die Eltern erwarten, dass ihr Kind dieses oder jenes erreicht. Dazu kommt oftmals der Freizeitstress nach der Schule. Den gab es früher zwar auch, wenn man zum Beispiel Kunstturnen auf hohem Niveau betrieb und noch an Wettkämpfe musste. Aber heute ist er wohl weiter verbreitet, vielleicht deswegen, weil das Freizeitangebot für jeden etwas bereithält.
Lässt die Schule genügend Spielraum für sinnvolle Freizeitaktivitäten?
Ja, die Schule lässt hierzu genügend Spielraum.
Wann können Freizeitaktivitäten belastend werden?
Da gibt es keine allgemeingültige Aussage. Es gibt Kinder, die machen gerne sehr viel. Und die mögen auch, wenn immer etwas läuft. Andere brauchen viel Zeit für sich. Zeit, in der sie nicht durch irgendein Programm oder eine Aktivität fremdbestimmt sind. Zeit, in der sie einfach ein bisschen sein können. Das ist wie bei den Erwachsenen. Auch hier gibt es solche, die mit einem Teilzeitjob zufrieden sind. Andere machen Überstunden und arbeiten am Wochenende. Wir Menschen sind individuell sehr unterschiedlich. Als wichtiges Kriterium kann das persönliche Wohlbefinden dienen.
Ist es wahr, dass heute mehr Schüler unausgeschlafen zur Schule kommen?
Ob es mehr sind als früher ist nicht eindeutig. Aber: Ja, in der Tendenz schlafen die Kinder zu wenig. Wer lernen will und das Gelernte behalten will, muss genügend schlafen. Dieser Zusammenhang ist in mehreren Studien erwiesen. Schlafen ist – wie essen auch – ein Primärbedürfnis. Jetzt geht es ums richtige Mass, denn nicht alle Kinder und Jugendlichen brauchen gleich viel Schlaf. Bei Pubertierenden hat man zum Beispiel festgestellt, dass die Melatonin-Ausschüttung auch am Abend noch ziemlich hoch ist. Das heisst, dass sie nicht schlafen können, selbst wenn sie wollten. In Versuchen in Grossbritannien trägt man diesem Phänomen Rechnung und beginnt mit dem Unterricht etwas später am Morgen. Mit dem Resultat, dass die Leistungen der Schüler gestiegen sind. Die Frage ist nur, was diese Schüler tun, wenn sie in die Arbeitswelt kommen und um sieben Uhr auf der Baustelle loslegen müssen oder in der Nachbarstadt eine Hochschule besuchen und dort der Unterricht um acht Uhr beginnt.
Müssen die Kinder des 21. Jahrhunderts viel schneller erwachsen werden als früher?
Das wird verschiedentlich behauptet, vor allem, wenn es um Inhalte geht, die über die Medien transportiert werden wie Gewalt oder Pornografie. Andererseits stelle ich aber fest, dass die Jugendlichen heute viel mehr Zeit haben, wirkliche Verantwortung zu übernehmen. Wenn Sie Bücher lesen, die die Kindheit in der Schweiz in früheren Jahren beschreiben, dann werden Sie feststellen, dass Kindern schon sehr bald wichtige Aufgaben übertragen wurden und sie mitgeholfen hatten, die Familie zu ernähren. Oder sie mussten von zu Hause wegziehen, um einen Beruf zu erlernen. Sehr eindrücklich wird das beispielsweise im Buch von Marcelle Meier «Das grüne Seidentuch» beschrieben, welches die Situation im Bergell und Engadin vor zirka 100 Jahren beschreibt. Selbstverständlich gibt es auch heute Kinder, die aufgrund verschiedener Umstände sehr früh erwachsen werden müssen und in einem gewissen Sinne alleine gelassen werden und damit auch überfordert sind. Ein neues Phänomen, das komplett in die andere Richtung geht, sind die sogenannten Helikopter-Eltern.
Helikopter-Eltern?
Das sind jene, die quasi über dem Kind kreisen und bei jedem Problem sofort zur Stelle sind, anstatt dem Kind die Möglichkeit geben, für sich Verantwortung zu übernehmen und Probleme selber zu lösen, was beides für die Entwicklung der Persönlichkeit nützlich wäre. Wenn wir so vergleichen, waren die Erwartungen an die Kinder früher viel höher als heute. Wenn man vergleicht: Fast jeder Kantischüler hat früher irgendwo einen Nebenjob gehabt. Heute ist das nicht mehr so, weil vieles von den Eltern finanziert wird und für einen eigenen Verdienst kaum mehr eine Notwendigkeit besteht. Aus dieser Sicht haben die Kinder und Jugendlichen heute schon eine schöne und behütete Kindheit und Jugend. Eher sogar ein bisschen überbehütet. Das ist kein Vorwurf, nur eine Feststellung. Die Kaufkraft ist generell höher. Deshalb gibt es für die meisten Jugendlichen keine Zwänge mehr, sich durch Nebenjobs an den Kosten zu beteiligen.
Die heutigen Jugendlichen stehen über Facebook, Skype und WhatsApp virtuell in Kontakt zu ihren Kolleginnen und Kollegen. Ist das ein Problem oder denken nur einige Erwachsene, dass es eines ist?
Für jeden Jugendlichen ist die soziale Anerkennung ganz wichtig. Das war früher so und ist heute so. Dazu zählen das Aufgehoben-Sein in der Klasse und zu Hause. Bei Schülern, die das nicht haben, ist das psychische Wohlbefinden in Frage gestellt. Es spielt dabei keine Rolle, ob das Gruppengefühl virtuell oder real ist. Man kann auch unter Einsatz der neuen Medien dazugehören. Oder auch nicht, wenn man entweder vom Gebrauch solcher Mittel ausgeschlossen ist oder keinen Zugang zur virtuellen Gruppe findet. Die Mechanismen sind genau gleich wie früher, sie spielen sich nur an einem anderen Ort ab. Ganz früher hat man immer eins zu eins schon auf dem Heimweg aus der Schule abgemacht. Spätere Generationen konnten das via Telefon von zu Hause aus tun. Und heute geht es halt über die Handys und Smartphones. Die Inhalte sind nicht anders geworden. Ich glaube auch nicht, dass die sozialen Plattformen die physischen Kontakte ersetzen oder abreissen lassen. Ich zähle nicht zu den Kulturpessimisten. Es ist heute nicht besser und nicht schlechter, nur anders. Salvador Dali soll gesagt haben: «Das Schlimmste an der heutigen Jugend ist, dass man nicht mehr dazu gehört».
Hat Mobbing im Vergleich zu früheren Jahren zugenommen?
Nein, zugenommen hat es nicht. Wenn ich dran denke, wie das bei uns früher zu und her gegangen ist und wie einzelne drangekommen sind, habe ich jetzt noch ein schlechtes Gewissen. Heute würden die Taten von damals nicht mehr toleriert, weil das Phänomen Mobbing in der Gesellschaft bekannt ist. Da ist man heute einfach sensibler und das ist gut so.
Soziale Plattformen
Soziale Plattformen bieten viel Raum für Missbrauch. Thema Mobbing. Es gibt Schülerinnen und Schüler, die auf Facebook gezielt Unwahrheiten über Klassenkameradinnen oder -kameraden verbreiten. Teils mit grosser krimineller Energie werden da Menschen fertig gemacht, blossgestellt und ausgegrenzt. Im Extremfall entwickelt sich eine Eigendynamik, bei der zum Schluss niemand mehr weiss, wo etwas angefangen hat und warum es so weit gekommen ist. Betroffene beklagen, dass zu wenig geholfen und stattdessen mit Kuschelpädagogik versucht wird, die Täter zu besänftigen. Mit nachweislich geringem Erfolg. In solch massiven Fällen muss die Schule konsequent ein- und durchgreifen. Da darf nicht gezögert werden. Kinder im Internet an den Pranger zu stellen, ist ein absolutes No go. Die Schule kann auf verschiedenen Ebenen eingreifen. Grundsätzlich sehe ich deren drei: Eine repressive, wobei Sanktionen ausgesprochen werden, eine beraterische für die Opfer, aber auch für die Lehrpersonen oder Schulleitungen, denn es gibt bei Mobbing Interventionsstrategien. Und als drittes sehe ich die präventive Ebene, wo die Schule ins Schul- und Klassenklima und den Umgang miteinander investieren kann.
Autorität: Eltern in der Zwickmühle
Sie haben die Autorität von ihren Eltern als Strafe, Unterdrückung und Willkür erfahren. Umgekehrt haben sie gemerkt, dass antiautoritäre Erziehung ohne Druck und Forderungen auch nicht funktioniert. Es begann die Suche nach einer «neuen Autorität», die Werte wie freien Willen, Individualität und kulturellen Pluralismus berücksichtigt. Die Psychologen Haim Omer und Arist von Schlippe begründen diese neue Autorität, zu deren zentralen Konzepten Präsenz und gewaltloser Widerstand gehören, in ihrem Buch «Stärke statt Macht – neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde». Ein Buch, das sowohl Eltern als auch Lehrpersonen eine Hilfestellung in schwierigen Erziehungssituationen bietet. Erschienen im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.