Lernen, mit sich selbst befreundet zu sein. Christian Seeher, Leitender Arzt vom Zentrum für stressbedingte Erkrankungen des Sanatoriums Kilchberg, schildert überraschende Ansätze zur Behandlung von Stresserkrankungen und Burn-out.
Ist Stress ein Modewort, das fast schon zum guten Ton gehört?
Stress ist messbar und führt, wenn er chronisch ist, zu einer Vielzahl körperlicher und psychischer Erkrankungen. In einer komplexer werdenden Welt wachsen die Anforderungen. Es gibt weniger verbindliche Strukturen und klare Rollendefinitionen. Zwar wird die Belastung objektiv gesehen nicht zwangsläufig höher, aber die subjektiv empfundene Unsicherheit nimmt zu und mit ihr auch der Druck, sich permanent entscheiden zu müssen. Auch die Geschwindigkeit, in der Informationen aufgenommen und verarbeitet werden, hat sich stetig gesteigert.
Gibt es heute wirklich mehr Stressopfer als früher?
Die Befunde sind eindeutig. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass etwa 20 Prozent der Arbeitnehmer Burn-out-Symptome haben. Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Fettstoffwechselstörungen gelten seit Jahrzehnten als Stressfolgeerkrankungen. Dagegen sind psychische Probleme als Folgen von Stress erst seit einigen Jahren im Zentrum des allgemeinen Bewusstseins.
Wann ist man wirklich ausgebrannt?
Beim Burn-out steht die zunehmende Erschöpfung im Vordergrund, verbunden mit einer reduzierten geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit. Der Prozess wird verursacht durch chronische Stressfaktoren, die von den Betroffenen in wachsendem Masse als nicht mehr bewältigbar erlebt werden. Wichtig ist, dass Burn-out als eine Entwicklung verstanden wird, die sich zwischen zwei Polen vollzieht: der gewöhnlichen Arbeitsüberforderung auf der einen Seite und einer ausgeprägten psychischen Erkrankung auf der anderen Seite. Reicht ein längerer Ferienaufenthalt nicht mehr aus, um sich zu erholen, handelt es sich um ein fortgeschrittenes Burn-out-Stadium. Erste Symptome sind oft Schlafstörungen, verbunden mit verminderter Leistungsfähigkeit und einem wachsenden Druck, den Anforderungen dennoch genügen zu wollen. Die Fähigkeit zur Distanznahme wird geringer, Gedankenkreisen und Gefühle, nicht mehr zu genügen, treten zunehmend häufiger auf.
Wann sollte man mit einem Burn-out in eine Klinik?
Eine stationäre Behandlung ist dann nötig, wenn der Burn-out-Prozess in eine so schwere psychiatrische Erkrankung mündet, dass sie ambulant nicht mehr erfolgreich behandelt werden kann. Das gilt besonders für mittelgradige bis schwere Depressionen, ausgeprägte Angst- und Panikstörungen, aber auch für psychosomatische Erkrankungen, denen oft eine lange Leidensgeschichte mit erfolglosen somatischen Behandlungsversuchen vorausgeht.
Welche Menschen sind am meisten Burn-out-gefährdet?
Bei fast der Hälfte der Burn-out-Patienten ist eine ausgeprägte Neigung zum Perfektionismus zu beobachten, bei etwa einem Viertel steht ein starkes Bedürfnis im Vordergrund, durch Leistung persönliche Wertschätzung und Anerkennung zu erhalten. Zahlreiche Studien zeigen, dass biografische Faktoren ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Besonders emotionale Vernachlässigung und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit führen zu einer erhöhten Anfälligkeit für Stressfolgeerkrankungen im Erwachsenenalter.
Was machen Sie mit Burn-out-Patienten ausser psychologischen Gesprächen und Sport?
Ein Burn-out-Prozess ist auf drei verschiedenen Ebenen angesiedelt: objektiv, subjektiv und existenziell. Am Anfang steht die Diagnostik. Mit jedem Patienten wird gemeinsam erarbeitet, auf welcher Ebene der individuelle Schwerpunkt zu verorten ist. Steht ein Ungleichgewicht zwischen den realen Anforderungen und den persönlichen Ressourcen im Vordergrund, liegt der Schwerpunkt der Behandlung auf der objektiven Ebene. Bei diesen Patienten geht es vor allem um Massnahmen zur körperlichen und psychischen Regeneration sowie um eine Verringerung der objektiven Stressfaktoren – etwa durch ein verbessertes Zeitmanagement oder durch eine Anpassung des beruflichen Stellenprofils.
Liegt dagegen der Schwerpunkt auf der subjektiven Ebene, geht es in der Behandlung vor allem um die individuelle Einschätzung der eignen Ressourcen und Anforderungen mit dem Ziel, eine realistischere Sichtweise zu erarbeiten. Eine Person, die mit der Grundeinstellung arbeitet «Wenn ich’s nicht mache, macht’s keiner», schätzt Anforderungssituationen höher ein als ihre Mitarbeiter und setzt sich gerade dadurch deutlich mehr Stress aus. Die Überprüfung und Korrektur tätigkeitsbezogener Einstellungen gehört zu den Standardmassnahmen auf der subjektiven Ebene.
Zeigt sich das Problem vor allem auf der existenziellen Ebene, steht das Selbstbild des Patienten im Vordergrund der Behandlung. Burn-out-Patienten neigen zu einer starken Identifikation mit leistungsbezogenen Normen, während andere Aspekte der Persönlichkeit mehr oder weniger ausgeblendet werden. Können die Leistungsnormen nicht ausreichend erfüllt werden, kommt es zu starken Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen. Die Behandlung auf der existenziellen Ebene zielt auf eine Sensibilisierung für den eigenen Körper und auf nicht-leistungsbezogene Bedürfnisse. Dabei haben sich Verfahren der Achtsamkeit sehr bewährt. Im zweiten Schritt geht es darum, die eigenen Wert- und Zielvorstellungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Wir haben dazu ein philosophisch ausgerichtetes Gruppenprogramm entwickelt, das wichtige Denkanstösse vermittelt, die auch im Alltag hilfreich sind.
Wie schulen Sie die Betroffenen in Kommunikation und emotionaler Kompetenz?
Viele Burn-out-Patienten haben in bestimmten Gesprächssituationen besonders Mühe, etwa wenn es darum geht, eigene Bedürfnisse zu äussern oder einfach mal Nein zu sagen. Solche Kompetenzen sind zum Beispiel durch Rollenspiele in einer Gruppentherapie gut trainierbar. Die Förderung emotionaler Kompetenz betrifft vor allem die Fähigkeit, besser mit belastenden Situationen umgehen zu können, also beispielsweise gerade dann eine wohlwollende Haltung zu sich selbst einzunehmen, wenn der äussere Druck besonders gross ist. Viele setzen sich dann auch noch innerlich unter Druck und reagieren bei drohenden Misserfolgen mit Selbstabwertung, woraus dann Leistungsblockaden entstehen. Es geht also darum, gerade in schwierigen Momenten, mit sich selbst befreundet zu sein. Mit dieser Haltung zur eigenen Person haben sich bereits antike Philosophen beschäftigt, und sie lässt sich durch Übung erlernen und kultivieren.
Bei Ihnen gibt es sogar eine Philosophiegruppe. Für was ist die gut?
Ich habe bereits die existenzielle Dimension von Burn-out erwähnt, bei der es um eine Überprüfung der eigenen Ziel- und Wertvorstellungen geht. Das ist seit der Antike ein zentrales philosophisches Anliegen. Und es gibt bestimmte Kernthemen, die bei Burn-out-Patienten wichtig sind. «Was ist meine persönliche Vorstellung von Glück?» «Wie gehe ich mit meiner Lebenszeit um?» «Bin ich wirklich im Hier und Jetzt verankert oder lebe ich vor allem in der Zukunft?» «Ist mir meine eigene Sterblichkeit bewusst und damit auch die Einmaligkeit meines Daseins?» Und bei Burn-out-Patienten besonders relevant: «Wie gehe ich mit unkontrollierbaren, schicksalhaften Situationen um?» Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit diesen Themen ist immer die gemeinsame Lektüre eines philosophischen Textes. Dieses Gruppenangebot wird von unseren Patienten sehr geschätzt, weil die Philosophie es ermöglicht, in den eigenen Problemen etwas ursprünglich Menschliches zu erkennen und auf diese Weise Würde und Selbstachtung wiederzuerlangen.
Treffen Sie die Experten
CHRONISCHER STRESS UND SEINE FOLGEN
Grundlagen und Möglichkeiten der Prävention und Therapie
Donnerstag, 9. Juli 2015, 18.30 –19.30 Uhr
im E-Saal des Sanatoriums Kilchberg
Referenten: Prof. Dr. med. Katja Cattapan, Chefärztin Privatstationen; Christian Seeher, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie; Dr. sc. ETH Ariane Orosz, Neurowissenschaftlerin, Coach i. A.
Sanatorium Kilchberg
Zentrum für stressbedingte Erkrankungen
Alte Landstrasse 70
8802 Kilchberg