Durchbruch bei der Behandlung der Hämophilie

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Für Menschen mit der Bluterkrankheit, der Hämophilie, hat eine neue Zeitrechnung begonnen. War die Behandlung bislang äusserst mühsam, gibt es seit Kurzem spezielle Therapien mit Antikörpern, die ihnen das Leben massiv erleichtern. Sogar Heilung ist nicht mehr länger Utopie. Die Gentherapie steht kurz vor der Einführung in den klinischen Alltag.

In der Schweiz gibt es etwa 700 Bluter. Der häufigste Typ ist die Hämophilie A. Den Betroffenen fehlt ein wichtiges Protein im Blut, der Faktor VIII, bzw. ist nur in niedrigen Konzentrationen vorhanden. Er spielt eine entscheidende Rolle bei der Blutgerinnung. Je nachdem, wie stark der Mangel an Faktor VIII ist, fällt der Schweregrad der Gerinnungsstörung aus. Zwischen 50 und 60 Prozent der Menschen mit Hämophilie leiden an einer schweren Form. Bei ihnen können Blutungen in die Gelenke oder in die Muskeln auftreten. Sie verursachen Schmerzen, Schwellungen, Deformierungen, eingeschränkte Beweglichkeit und langfristig schwere Gelenkschäden. Wenn die Blutungen im Gehirn auftreten, sind sie lebensbedrohlich.

Die intravenöse Verabreichung ist sehr belastend

Die Hämophilie wird von einem Elternteil an das Kind vererbt. Da es sich um ein X-chromosomales, durch die Mutter vererbtes, rezessives Merkmal handelt, wird die Krankheit meist von der Mutter an einen Sohn weitergegeben. Betroffene brauchen lebenslang eine Substitution des fehlenden Gerinnungsfaktors. Alle Präparate mussten bisher intravenös verabreicht werden, mehrmals wöchentlich, was natürlich sehr belastend ist. Deshalb machen einige Betroffene nur eine Behandlung bei Bedarf, also nur dann, wenn eine Blutung auftritt, anstatt eine präventive Dauertherapie, mit der verhindert wird, dass es überhaupt zu Blutungen kommt.

Ein weiterer Nachteil der bisherigen Behandlung ist die Bildung von Hemmstoffen durch das körpereigene Immunsystem.  Sie greifen die verabreichten Blutgerinnungsfaktoren an und machen sie unwirksam. Bei fast einem von vier Patienten kommt es, zumindest vorübergehend, zu dieser Problematik. Für die Betroffenen gab es bisher nur wenige Alternativen.

Massive Reduktion von Blutungen

Eine ganz neue Generation von Präparaten mit Antikörpern macht Menschen mit Hämophilie A jeglichen Alters das Leben nun massiv leichter. Sie müssen nur noch subkutan, also unter die Haut injiziert werden und können auf Grund der langen Halbwertszeit in verschiedenen zeitlichen Intervallen verabreicht werden, wöchentlich, alle zwei oder sogar nur alle vier Wochen. Die neuen Präparate ahmen die Funktion von Gerinnungsfaktor VIII nach und stellen die Blutgerinnung weitgehend wieder her. In gross angelegten Studien zeigte sich gegenüber den bisherigen Therapien eine massive Reduktion der Blutungen. Im Vergleich zu den bisherigen Therapieangeboten reduzierte die wöchentliche prophylaktische Gabe von Antikörpern die Anzahl behandlungsbedürftiger Blutungen um 96 Prozent und um 97 Prozent bei der zweiwöchentlichen Behandlung. Auch die Zahl von Gelenkseinblutungen, die eine Behandlung erforderlich machten, konnten um 95 Prozent reduziert werden. Ähnlich gute Ergebnisse erzielte auch eine vierwöchentliche Therapie. Zuvor wurden für Patienten mit Hemmkörpern bereits ähnlich starke Rückgänge nachgewiesen.

Endlich Schluss mit der Angst und Plagerei

Was dieser Therapiedurchbruch für die Betroffenen bedeutet, zeigt das Beispiel eines siebenjährigen Knaben aus dem Kanton Aargau. Wenn er sich auch nur leicht verletzte, war die Blutung ohne Medikamente kaum mehr zu stoppen. Im fehlt der Gerinnungsfaktor VIII. Sein Immunsystem begann sich mit Hemmkörpern gegen die Gerinnungspräparate zu wehren. Die Wirkung verpuffte immer schneller. Bis zu drei Spritzen am Tag waren nötig. Obwohl der Junge immer mit einem Stoffhelm unterwegs war, konnte ihn seine Mutter niemals unbeobachtet lassen. In seine Kleider nähte sie Polster ein. Das neue Produkt mit dem Antikörper brachte die lang ersehnte Wende. Keine Plagerei mehr mit intravenösen Spritzen. Keine Blutungen mehr, keine Schmerzen, Schluss mit der andauernden Angst, dem Kind könne etwas Schlimmes passieren.

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Ein neues Zeitalter

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Jörg Krucker

Wie beurteilt Jörg Krucker, Geschäftsleiter der Schweizerischen Hämophilie-Gesellschaft und selbst Vater von zwei Söhnen mit Hämo­philie, die neuen Therapien?

Als Patienten-Organisation sind wir natürlich sehr erfreut über die Entwicklungen, die sich anbahnen. Gemäss den Studien ist die Antikörper-Therapie sehr erfolgreich, insbesondere bei Betroffenen mit Hemmkörpern. In der Schweiz ist nun seit Kurzem auch ein Produkt erhältlich für Bluter ohne Hemmkörper. Die subkutane Verabreichung ist vor allem bei Patienten im Kindesalter sehr viel weniger umständlich wie die intravenöse. Zudem sind die Halbwertszeiten um einiges länger als bei den bisherigen Faktorkonzentraten. Dies reduziert die jährliche Anzahl an Injektionen erheblich, was auch die Lebensqualität verbessert. Abzuwarten gilt es, wie die langfristigen Erfahrungen mit den Antikörper-Therapien ausfallen werden.

Auch die Gentherapie, von der schon vor 20 Jahren die Rede war, wird nun immer mehr Realität. Die Erfahrungen sind bisher sehr erfolgversprechend. Es gibt Betroffene, die im Rahmen von Studien gentherapeutisch behandelt wurden. Über Monate hinweg mussten sie keine Therapien mehr anwenden und hatten keinerlei hämatologischen Probleme. Durch einen gezielten Eingriff in die Genetik von betroffenen Menschen konnte der Defekt behoben werden, so dass ihr Körper nun wieder selber den nötigen Gerinnungsfaktor herstellt. Man kann also von einer Heilung der chronischen Krankheit sprechen. Trotzdem ist auch hier noch keine Euphorie angesagt. Die langfristigen Erfahrungen und Resultate sind abzuwarten. Dennoch dürfen wir sagen, dass die Behandlung der Hämophilie in eine neue Ära gekommen ist, die uns sehr zuversichtlich stimmt.