Erst 1868 wurde das Krankheitsbild der Multiplen Sklerose entdeckt. Medizinhistoriker Dr. med. Karl-Franz Gruber-Gerardy über kuriose Erklärungsversuche und den langen Weg bis zu einer wirksamen Therapie.
Über viele Jahre hatte der französische Neurologe Jean Martin Charcot bei seiner Hausangestellten immer stärkere motorische Probleme beobachtet. Schliesslich war sie nicht einmal mehr in der Lage gewesen, sich selbst zu versorgen. Charcot betreute sie von da an in seiner Klinik. Nach ihrem Tod untersuchte er Gehirn und Rückenmark und fand dort «Plaques disséminées». 1868 fasste er die Symptome und die pathologischen Befunde unter dem neuen Krankheitsbild «La sclérose en Plaques disséminées» zusammen.
Natürlich hatte es auch schon lange vorher Hinweise auf die Multiple Sklerose gegeben. 1396 war die 15-jährige Tochter eines holländischen Nachtwächters beim Eislaufen gestürzt. Die Rippenbrüche heilten schlecht. Später litt sie unter stechenden Kopfschmerzen, erblindete auf einem Auge und war extrem lichtempfindlich. Sie litt unter hängenden Lippen, der rechte Arm war zeitweise gelähmt, schliesslich konnte sie nicht mehr laufen. Dass es Lidwina von Schiedam in die Medizingeschichte schaffte, hatte allerdings wohl weniger mit ihrem Leiden selbst zu tun, als mit der Art und Weise, wie sie damit umging – und wie ihr Leiden von Kirche und Ärzten interpretiert wurde. Wie die Epilepsie galt auch ihre Krankheit als gottgesandt. Lidwina wurde in der Nachfolge Jesu gesehen, sie sei auserwählt die Sünden anderer zu tragen. Geduldiges Leiden gepaart mit Visionen liessen sie in den Augen ihrer Mitmenschen zur Heiligen werden.
Rund 400 Jahre später berichtete ein Cousin Queen Victorias in seinem Tagebuch ausführlich über seine Krankheit: Sehstörungen, Taubheitsgefühle im Rückgrat und Bauchbereich, Probleme beim Wasserlassen samt Stuhlinkontinenz und unvermitteltes Stolpern wurden notiert. Und weiter: «Extreme Schwäche war der einzige Grund für meine Stürze.» Auch Augustus d’Esté konnte irgendwann nicht mehr laufen und war bis zum Lebensende auf einen Rollstuhl angewiesen.
Ende des 19. Jahrhunderts war es dank verbesserter Mikroskope und mit Hilfe neuer Techniken zur Untersuchung von Gewebsproben zwar gelungen, die Natur der von Charcot identifizierten «Plaques disséminées» besser zu beschreiben. Die Multiple Sklerose wurde nun als chronisch-entzündliche Erkrankung charakterisiert, bei der die Markscheiden, die äussere Schicht der Nervenfasern also, angegriffen sind. Aber woher kam diese merkwürdige Krankheit? Wodurch wurde sie ausgelöst?
Zur Zeit Lidwina von Schiedam, im 14. und 15. Jahrhundert, war die Antwort einfach: Gott hatte das Leiden gesandt. Im aufgeklärten 19. Jahrhundert hatte man zwar das Erklärungsmuster der göttlichen Fügung ad acta gelegt. Auf der Suche nach den Ursachen der Multiplen Sklerose sollte man sich aber schwertun. Und nicht selten folgte man bei der Suche medizinischen Moden. Stress, eine neuropathische Konstitution oder sexuelle Exzesse wurden als Auslöser des Leidens vermutet. Einige Ärzte vertraten die Meinung, ein Hitzschlag komme als Auslöser in Frage, andere favorisierten dagegen übermässige Kälte. Kaum hatte man die ersten Vitamine entdeckt, wurde über MS als Vitamin-Mangelkrankheit spekuliert. Andere interpretierten MS als Berufskrankheit und sahen Schwermetalle beziehungsweise Umweltgifte als Auslöser. Keine Erklärung schien abwegig genug: Besonders lange Schädel sollten zu MS prädisponieren, unterdrückte Emotionen würden «plaques» im Gehirn bilden. Mit der Entdeckung von Bakterien und Viren geriet die Multiple Sklerose schliesslich auf die Liste potenzieller Infektionskrankheiten.
Manche dieser Vermutungen verschwanden rasch wieder, andere hielten sie über viele Jahrzehnte, wieder andere schienen widerlegt und tauchten dann doch irgendwann wieder auf. «Zombies» nannte sie David Sacket, der Mitbegründer der evidenzbasierten Medizin. Derartige medizinische «Zombies» sind vielleicht aber auch typisch für eine fast schon verzweifelte Suche nach den Ursachen einer Krankheit.
Für eine erfolgreichere Suche hatte der Schweizer Arzt F. Glanzmann im Jahr 1927 einen entscheidenden Hinweis gegeben. Bei der Untersuchung von Viren und Impfstoffen waren ihm «nervöse Komplikationen» aufgefallen. Mit Hilfe eines speziellen Tiermodells – der experimentellen allergischen Enzephalomyelitis – konnte einige Jahre später tatsächlich nachgewiesen werden, dass die Markscheiden der Nerven infolge einer allergischen Reaktion geschädigt werden können. In der Folge geriet die Multiple Sklerose immer mehr in den Verdacht, Ergebnis einer fehlgesteuerten Immunantwort des Körpers zu sein. Makrophagen und Lymphozyten, die normalerweise zentrale Bausteine des Immunsystems des Körpers sind, greifen bei dieser Fehlsteuerung selbst das körpereigene Nervensystem an. Die These eines immunologisch ausgelösten und sich in Wellen wiederholenden Prozesses wurde in den 1980er-Jahren mit einer Reihe weiterer Hinweise erhärtet.
Wissenschaftliche Modelle müssen sich an der Wirklichkeit beweisen. Vorwissenschaftliche auch. Wenn die Krankheit, wie bei Lidwina, von Gott geschickt worden war, konnten nur Sühne, Gebet und Wallfahren das Leiden heilen. Ärzte war bestenfalls in der Lage, Symptome zu lindern – mit den Mitteln der Zeit wie Kräuterextrakten oder Blutegeln. Wenn die Krankheit durch Hitze/Kälte oder durch «schwache Nerven» oder Stress ausgelöst wurde, schienen Bäder, elektrischer Strom oder Ruhekuren die rechte Remedur.
Je diffuser die Vorstellungen über die Ursachen der Krankheit, desto «heilloser» waren die Behandlungsversuche. Man spricht von Polypragmasie und meint, alles wird versucht, alles wird eingesetzt. Dass das in einer Zeit, in der Arzneimittel ohne klinische Studien und ohne staatliche Überprüfung auf den Markt kamen, höchst gefährlich sein konnte, ist offensichtlich. Über den Erfolg ihrer Massnahmen machten sich die Ärzte übrigens kaum Illusionen: Wenigstens seien sie ein «Trostmittel» für die Patienten. So bleiben insgesamt nur wenige «alte» Therapien, die auch heute noch überzeugen; «heilgymnastische Übungen» etwa, von denen es schon 1904 hiess, dass sie «die Unsicherheit der Bewegung zuweilen deutlich bessern können».
Auf der Basis des immunologischen Paradigmas der Multiplen Sklerose wurden seit den 1950er-Jahren Versuche mit Cortison und mit den neu entwickelten Immunsuppressiva, also Mitteln, die die Immunreaktion unterdrücken, durchgeführt. Die klinischen Ergebnisse deuteten an, dass man auf dem richtigen Weg war. Aber erst mit der weiteren Aufklärung der immunologischen Prozesse und mit dem Einsatz von Interferon kam es Anfang der 1990er-Jahre zu einem wirklichen Durchbruch in der Therapie. Mit Interferon Beta war es zum ersten Mal gelungen, die Progression der Krankheit zu verlangsamen. Mit der ebenfalls neuen MRI-(MagnetResonanzImaging)Technik konnte dies zudem auch noch eindrucksvoll visuell dokumentiert werden. 1874 hatte Charcot seine Studenten noch gewarnt, er wolle sie nicht mit den therapeutischen Überlegungen quälen, die Zeit dafür sei noch nicht gekommen. 120 Jahre später hätte er seine Leçons sicher gern um einen therapeutischen Part ergänzt.
Mit der rasanten Entwicklung der MS-Forschung hätte Charcot 20 Jahre später über eine ganze Reihe neuer Möglichkeiten zur immunmodulatorischen Behandlung der schubförmigen Multiplen Sklerose berichten können. Für die Basistherapie und für die Eskalationstherapie beim Versagen der Basistherapie. Heute erweitern biotechnologisch hergestellte Immunmodulatoren die therapeutischen Möglichkeiten. Da die Behandlung der Multiplen Sklerose einen sehr individuell gestalteten Behandlungsansatz erfordert, bedeutet die zunehmende Vielfalt von Therapiemöglichkeiten eine enorme Verbesserung für die Patienten.
1924 hatte A. J. Cummings, der unter MS litt, einen Traum: «Es wäre toll, wenn heute oder morgen ein Arzt aus London mit wildem Galopp herkäme … hereinstürzt und mit meiner Begnadigung winkt – die Therapie für die Heilung ist entdeckt.» Die Heilung der Multiplen Sklerose ist zwar auch im Jahr 2015 noch nicht möglich. Aber Patienten können heute «aus dem Rollstuhl geholt» werden. Und die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass sie nach der Diagnose beruflich und privat ein normales Leben führen können.
Bildlegenden von oben nach unten:
1. Gymnastische Übungen wurden schon vor über hundert Jahren zur körperlichen Ertüchtigung und zu Therapiezwecken bei MS empfohlen.
2. Der franzose Jean Martin Charcot war der berühmteste Neurologe seiner Zeit.
3. Unten: Mit speziell entwickelten Elektrisiermaschinen rückte man im 19. Jarhundert Nervenkrankheiten zu Leibe.