Ich möchte sterben heisst nicht ich will mich umbringen

sterben

Ein Beitrag in der Schweizerischen Ärztezeitung wirft ein anderes Licht auf die Debatte um den begleiteten Suizid. Geriatrie-Chefarzt Dr. Daniel Grob über den Umgang mit Sterbewünschen.

Alte und sehr alte Menschen beschäftigen sich naturgemäss häufiger mit ihrem eigenen Tod als junge Menschen. Dies besonders, wenn eine akute gesundheitliche Krise einen schon vorher fragilen und vulnerablen Körper getroffen hat. Äusserungen wie «Herr Doktor, ich möchte sterben» oder «Frau Doktor, lassen Sie mich sterben» sind nicht selten. Diese hochbetagten, kranken Menschen leiden meist nicht an lebenslimitierenden Erkrankungen. Sie leiden an chronischen Krankheiten und deren akuten Verschlechterungen respektive Folgen von altersbedingten Erscheinungen wie Frakturen nach Stürzen bei Osteoporose, Delirien bei einer Hirnerkrankung, Lungenentzündung bei chronischer Bronchitis, Herzversagen bei bestehender Herzschwäche und so weiter. Zudem sind sie nicht selten alleinstehend, weil der Partner oder die Partnerin verstorben ist, die Kinder weit weg sind, die Freunde oder Freundinnen häufig auch schon gegangen sind. Dass in einer solchen als ausweglos erlebten Situation ein Sterbewunsch geäussert wird, ist absolut verständlich.

Was bedeutet eine solche Äusserung von medizinisch nicht am Lebensende stehenden alten Menschen, und wie gehen wir als Ärzte und Ärztinnen damit um? Es ist zunächst Aufgabe des Arztes, die hinter den geäusserten Sterbewünschen liegenden, sehr vielgestaltigen Motive alter Menschen zu ergründen. Sterbewünsche sind oft Ausdruck einer tief empfundenen Lebensmüdigkeit bei sehr alten Menschen, die oft fast alle Freunde und Bekannten verloren haben, und manchmal – gerade im hohen Alter – auch schon die eigenen Kinder. Diese Menschen haben im Verlaufe ihres langen Lebens viele Hochs und Tiefs erlebt und sind im Falle einer akuter Erkrankung oder eines Unfalls respektive zunehmender Hilfsbedürftigkeit konfrontiert mit der eigenen Gebrechlichkeit und vielleicht mit der Aussicht, nicht mehr gesund und damit vielleicht auch längerfristig pflegebedürftig zu werden.

Sterbewünsche können auch Ausdruck einer Depression sein. Depressionen im Alter sind sehr häufig und werden nicht selten von den behandelnden Ärzten verkannt. Auch Angehörige depressiver alter Menschen neigen gerne dazu, depressives Verhalten – Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben, Antriebslosigkeit und so weiter – als unabwendbares Zeichen des Alters zu akzeptieren. Nicht selten werden Sterbewünsche von alten Menschen mit einer Nutzlosigkeit, Wertlosigkeit respektive Belastung für die Gesellschaft begründet. Das Denken in ökonomischen Dimensionen durchdringt heute die ganze Gesellschaft. Diskussionen um Kosten sind allgegenwärtig, auch bei medizinischen Entscheidungen. Wenn alte Menschen sich nur noch als Kostenfaktor erleben, ist das wohl Ausdruck eines gesellschaftlichen Problems.

Manchmal sind Sterbewünsche aber auch eine Art von Kokettieren mit dem Tod. Die Beschäftigung mit dem Tod ist in hohem Alter etwas gänzlich Normales – der geäusserte Sterbewunsch ist in diesem Kontext die Aufforderung des Patienten, über Tod und Sterben zu reden.

Sterbewünsche können auch eine versteckte Testfrage an den Arzt sein: Steht er mir bei oder lässt er mich fallen? Habe ich mit ihm einen Verbündeten, der zu mir steht und den zukünftigen, vielleicht schwierigen Weg mit mir geht? Der Umgang mit Sterbewünschen kann sehr schwierig sein. Ärzte sind gehalten, das anspruchsvolle und zeitintensive Gespräch mit dem Patienten über Tod und Sterben aufzunehmen; häufig stehen ja auch Entscheidungen über weitere Abklärungen und Behandlungen an. Solche Entscheidungen bei sehr betagten Patientinnen und Patienten, besonders im Zusammenhang mit Sterbewünschen, sind nie Einzelentscheide am Krankenbett – es sind zeit- und kommunikationsintensive Entscheidungsprozesse – nach Möglichkeit auch unter Einbezug von Angehörigen und Betreuenden.

Der Sterbewunsch eines alten Patienten ist zunächst lediglich die Vorstellung, dass er oder sie sich den Tod als besseren Zustand als das Leben vorstellt. Die Frage, was hinter dieser Vorstellung steht, ist sorgfältig zu ergründen. Meine persönliche Erfahrung zeigt, dass dieser Sterbewunsch sehr selten den Wunsch nach Selbsttötung bedeutet. Er ist Ausdruck der aktuellen Beschäftigung mit der eigenen Endlichkeit beziehungsweise dem eigenen Zustand. Wenn der Arzt hier vorschnell den Barbiturat-Rezeptblock zückt – im Sinne einer modernen, schnellen Lösung des Problems – würde er hohe Gefahr laufen, die Signale des Patienten falsch zu interpretieren und damit medizinisch unkorrekt zu handeln. Der Arzt würde zusammen mit seinem Patienten Opfer eines ökonomisierten Zeitgeistes, der die moderne Medizin zur schnellen Machbarkeit verdammt.

Viel häufiger werden andere Problemlösungen den Patientenwünschen gerechter. Diese Problemlösungen zu finden, sich mit dem Patienten auseinanderzusetzen und mit ihm den Weg gemeinsam zu gehen, ist eine vornehme ärztliche Aufgabe, liegt aber möglicherweise quer zum Zeitgeist einer effizienten, aber fragmentierten Betreuung. Beihilfe zum Suizid wird heute – entgegen den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften – auch bei alten Menschen geleistet, die nicht am Lebensende stehen. Wurde in diesen Fällen der geäusserte Sterbewunsch korrekt und sorgfältig interpretiert? Oder ist diese Beihilfe zum Suizid Ausdruck einer vom Patienten selber vorgenommenen und vom Arzt geteilten ökonomischen Wertung seiner gesellschaftlichen Existenz? Gesellschaftliche Probleme lassen sich nicht mit dem Rezeptblock lösen.