Ich muss nicht perfekt sein

Parental Burnout Mutter dobeStock 71845295 Gina Sanders Symbolbild. Quelle: AdobeStock, Urheber Gina Sanders

Sie sind wegen einer Erschöpfungsdepression behandelt worden. Was war der Grund?

Der Job war das kleinere Übel. Das Hauptproblem war, dass ich gleichzeitig eine Familie mit drei Kindern managen musste. Besonders schwierig war es, wenn Unvorhergesehenes dazukam.

Dann kam zwangsläufig etwas zu kurz.

Genau. Aber das habe ich einfach nicht erlaubt. Ich wollte nicht nur eine perfekte Mitarbeiterin, sondern auch eine perfekte Mutter und Hausfrau sein. Niemals Fastfood, immer frisches Gemüse und regionales Fleisch. Wenn es eng wurde, kochte ich in den Arbeitskleidern. Danach war wieder alles blitzblank. Bei mir konnte man vom Boden essen. Um zehn Uhr abends bin ich dann wie tot ins Bett gefallen.

Woher kommt dieser Anspruch auf Perfektion?

Sicher hat mir meine Mutter die Rolle als perfekte Hausfrau vorgelebt. Aber ich wollte es auch anders machen als meine Schwester, die finanziell von ihrem Mann abhängig war.

Also mussten Sie familiär und beruflich ­erfolgreich sein.

Ja. Wirklich schlimm wurde es aber erst, als ich mich wegen meines zunehmenden Gewichts immer weniger attraktiv fühlte. Ich dachte: Wenn du schon körperlich nicht mehr perfekt sein kannst, dann musst du es eben als Hausfrau und Mutter sein.

Das klingt so, als hätten Sie mit Perfektionismus ein gefühltes Defizit kompensieren wollen?

Genau. Aber das wirkliche Defizit war, dass ich mich nicht mehr gemocht habe.

Wie hat sich das auf Ihre Kinder ausgewirkt?

Ich war ständig genervt, habe viel zurechtgewiesen. Manchmal bin ich auch laut geworden.

 

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Tobias Ballweg, Leitender Psychologe

 

Hatten Sie deswegen ­Schuldgefühle?

Ja, es fiel mir aber schwer, sie einzugestehen. Ich versuchte sie zu überspielen und habe am Abend vermehrt Alkohol getrunken. Am Morgen hatte ich dann auch deswegen Schuldgefühle. Je grösser das Chaos in mir wurde, desto mehr habe ich darauf bestanden, dass zumindest äusserlich alles tipptopp sein muss.

Sie beschreiben einen Teufelskreis. Wie haben Sie es geschafft, da rauszukommen?

Das Wichtigste, das ich während meines stationären Aufenthalts im Sanatorium gelernt habe, ist, mich wieder zu mögen und im Einklang mit mir selbst zu sein.

Wie ist Ihnen das gelungen?

Am Anfang ging ganz viel über den Körper: Sich selbst und seine Gefühle wieder spüren.  Aber vor allem, diese ernst zu nehmen. Irgendwann hat mich das zur Einsicht gebracht: Ich muss nicht perfekt sein, um geliebt zu werden.

Hat diese Entwicklung auch den Umgang mit Ihrem Mann und Ihren Kindern verändert?

Ja, ich kann jetzt viel besser zuhören, ohne mich gleich angegriffen zu fühlen. Aber vor allem: Ich kann endlich Fragen stellen. Seitdem fangen meine Kinder an, auch über ihre Gefühle zu sprechen.

Offenbar haben Sie es geschafft, Perfektion und Zuneigung voneinander zu trennen.

Inzwischen glaube ich sogar, dass zu hohe Ansprüche Zuneigung kaputt machen können. Seit ich das erkannt habe, hat sich auch das Verhältnis zu meinem Mann verändert. Wir nehmen uns Zeit füreinander und wollen wieder ein Liebespaar werden.

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„Bin ich das? Muss ich so sein?“ Selbstbild von Frau H., entstanden in der Kunsttherapie im Sanatorium Kilchberg 2021

Weitere Infos: www.sanatorium-kilchberg.ch