Ich weine, wenn es niemand sieht

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Zwei Frauen, eine Krankheit. Ein Gespräch über Verzweiflung, Schikanen im Alltag und das grosse Bangen, ob die Krankenkasse weiter zahlt.

Eine Nacht durchtanzen. An die Fasnacht gehen. Schuhe mit hohen Absätzen tragen. Aus vollem Lauf in der Badi den Köpfler machen. Über einen Bergbach springen. Wie früher Handball, Unihockey und Fussball spielen. Das wünscht sich Brigitte Nyfeler, 42, aus Port BE. Doch sie weiss: Ihre Wünsche werden nicht erhört.

Es ist Dienstag. Zeit für die Infusion. Fünf Stunden hängt die 42-Jährige im Spital am Tropf. Alle 14 Tage. Ohne das Medikament würde sich ihr Gesundheitszustand verschlechtern. Brigitte Nyfeler leidet an Morbus Pompe, einer seltenen Krankheit. Rund 20 Betroffene gibt es in der Schweiz. In ihren Körperzellen werden Abfall-Proteine nicht abgebaut. Stattdessen zerstören Eiweiss-Ansammlungen die Muskulatur. Zumindest dann, wenn das Medikament nicht wäre.

Heute hat Brigitte Nyfeler Besuch. Andrea Weisstanner, 46, aus Neuenhof AG ist gekommen. Auch sie ist eine Pompe-Patien­tin. Das Treffen musste von langer Hand geplant werden, denn so einfach dieses oder jenes tun – nein, das geht nicht mehr. Die beiden Frauen nutzen die Dauer der Infu­sion, tauschen sich aus, erzählen von ihren Erlebnissen, ihren Erfahrungen. Mit wem sollten sie das sonst tun? Wer ausser ihnen weiss, was es bedeutet, eine Krankheit zu haben, die selten ist. So selten, dass kaum ein Hausarzt in der Schweiz jemals einen Patienten in seiner Sprechstunde zu Gesicht bekommt.

«Ist das deine Höchstgeschwindigkeit?» Andrea Weisstanner guckt auf den Monitor, der die Medikamentenabgabe steuert. 125 Milliliter zeigt er an. «Ich fange mit 29 Milliliter pro Stunde an. Jede halbe Stunde wird erhöht auf maximal 207.» Brigitte Nyfeler: «Ich starte bei 25, gehe auf 75, 125 und dann auf 175 Milliliter.»

Die Leidenswege von Brigitte Nyfeler und Andrea Weisstanner sind lang. Gespickt von Hindernissen, gesäumt von Unwissen. Bis die Diagnose gestellt wird, dauert es oft Jahre. Jahre des Leidens, Jahre der Verzweiflung. Und wenn der Fall endlich klar ist, wird vieles unklar: Wie soll es weitergehen? Was kommt auf die Betroffenen zu? Wie meistert die Familie das Leben? Wer bezahlt die Behandlung? «Als ich zum Vertrauensarzt meiner Krankenkasse musste, fragte er mich vorwurfsvoll, ob ich mir im Klaren sei, dass ich mehr koste als ein Patient, dem ein Herz transplantiert wird.» Die Augen von Andrea Weisstanner werden feucht, heute noch. «Das ist so erniedrigend. Glaubt denn der Arzt, ich habe mir diese Krankheit ausgesucht? Und ja: Das Medikament ist teuer. Aber es wirkt! Es hilft mir, die Krankheit stabil zu halten. Ich gewinne viel Lebensqualität. Und es geht nicht nur um mich. Ich habe auch noch Familie. Einen 10-jährigen Sohn, der seine Mutter jeden Tag braucht.»

Auch Brigitte Nyfeler ist Mutter. Zwei Buben hat sie, 10 und 8 Jahre alt. Sie hört zu. Ihre Augen sprechen Bände. Andrea Weisstanner erzählt weiter: «Von Tag zu Tag ging es mir schlechter. Ich musste zwei Jahre warten, bis mir das rettende Medikament zur Verfügung stand. Alles eine Frage der Kosten. Die Erlösung war riesig, als ich die erste Infu­sion bekam. Die Abwärtsspirale stoppte und es machten sich sogar kleine Verbesserungen bemerkbar. Heute bin ich stabil. Wie ist es bei dir, Brigitte?» «Ich bin auch stabil, seit ich das Medikament bekomme. Gott sei Dank!» «Mein Schwachpunkt ist die Lunge», sagt Andrea Weisstanner. «Beim Treppenlaufen bin ich besser geworden. Das Schwimm-Training hilft mir, aber ohne Brettchen schaffe ich keine halbe Länge. Brustschwimmen kann ich nicht mehr, sonst sinkt mein Schwerpunkt und mir fehlt die Kraft, den Körper über Wasser zu halten.» Brigitte Nyfeler nickt: «Man muss irgendwie herausfinden, welche Betätigungen nützlich sind. Schwimmen geht bei mir überhaupt nicht. Sobald das Wasser gegen den Brustkorb drückt, kann ich nicht mehr einatmen. So trainiere ich am liebsten in der Wohnung mit dem Theraband.»

Die Muskeln sind ihre Lebensversicherung. Das ist beiden Frauen bewusst. Sie zu erhalten, steht über allem. So gut es geht eben. Den Mittelweg finden zwischen Wünschbarem und Machbarem. Den Grat beschreiten zwischen Motivation und Resignation. Auch Übergewicht abbauen, aber bitte nur das Fett, keinesfalls die Muskelmasse. Schwierig, wenn man sich nicht mehr richtig bewegen kann. Beschwerlich, wenn man dauernd vor Hindernissen steht. «Überall hat es Treppen, die ich mit dem Rollator nicht bewältigen kann. Und wenn es beim Einkaufen viele Menschen hat, schubsen sie dich hin und her. Gefährlich für mich, da mein Gleichgewichtssinn gestört ist. Ich muss mit den Augen Balance halten, spüre nicht, wenn ich kurz vor dem Umfallen bin.» «Ja genau», sagt Andrea Weisstanner. «Auch glänzende, glatte Bodenbeläge machen Mühe. Ich kann mich dann überhaupt nicht mehr orientieren. Im Winter ist es besonders schlimm.»

Brigitte Nyfeler: «Hast du auch gehört, dass die Kassen nur noch eine statt zwei Physiotherapien bezahlen wollen?» Andrea Weisstanner: «Bis jetzt nicht.» Ihr Blick wird nachdenklich. «In den Selbsthilfegruppen hört und sieht man Dinge, die einen stark belasten können. Ich erinnere mich noch genau, als die Krankenkasse deine Medikamente nicht mehr bezahlte. Es war ganz schlimm für mich zu sehen, wie du von Tag zu Tag schwächer wurdest.» «Ja, ohne Medikamente ging es bei mir stetig bergab; ich erlitt dann noch den Bandscheibenvorfall. Seither muss ich ein Korsett tragen. Mein Rücken ist nicht mehr stabil genug. Ohne Rollator kann ich mich nur gebückt und für kurze Zeit auf den Beinen halten.» Andrea Weisstanner: «Ich gehe noch ohne Rollator, aber die Angst, gewisse Distanzen und Situationen nicht meistern zu können, liess bei mir noch vor Kurzem richtige Phobien entstehen. Es ist rot am Zebrastreifen. Ich halte mich an der Ampel fest und die Nervosität und Anspannung steigt. Schaffe ich bei grün die ganze Strasse zu überqueren? Was, wenn ich zu lange stehen muss und eine zunehmende Schwäche die Beine durchströmt? Mein Gang ist manchmal recht watschelig und ich spüre, wenn sich viele Augen auf mich richten, weil niemand weiss, was mit mir los ist. Dann kämpft mein Wille gegen die innere Stimme. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass solche Dinge zum fast unüberwindbaren Hindernis würden. Die Leichtigkeit des Seins ist völlig verloren gegangen.»

Allein die Angst ist geblieben. «Die Angst, das Medikament nicht mehr zu bekommen, weil ich die Vorgaben der Krankenkasse irgendwann vielleicht nicht mehr erfüllen kann.» Die Neuenhoferin spricht von den Tests, die ein Pompe-Patient zweimal pro Jahr bestehen muss. Fallen die Resultate nicht befriedigend aus, wird der Geldhahn zugedreht. Dann fliesst auch keine Infusion mehr. «Die Ungewissheit, dass es so weit kommen könnte, macht mich fix und fertig. Manchmal bin ich vor einem Test verkrampft oder einfach nicht so gut drauf. Dann steigt der Druck, bestehen zu müssen.»

«Generell habe ich das Gefühl, dass die Ärzte es zwar gut meinen, doch nicht immer so genau wissen, was zu tun ist.» Andrea Weisstanner spricht aus, was viele Pompe-Patienten denken. Nicht nur die Krankenkassen mit ihren Vertrauensärzten, selbst viele Spezialisten seien überfordert. Morbus Pompe, die Krankheit, die man einem erst ansieht, wenn der Gang unförmig wird. Wenn die Beine nicht mehr das tun, was man gerne möchte. Wenn die Lunge in kürzester Zeit ausser Atem gerät, weil das Zwerchfell erschlafft. Und die Mutter nicht helfen kann, wenn das eigene Kind beim Spielen mit dem Trottinett stürzt. Brigitte Nyfeler: «Das sind Momente, in denen ich mir so unnütz vorkomme.» Momente, die in den einsamen Stunden der Nacht in Form von schlafraubenden Gedanken aus allen Richtungen durch ihren Kopf schies­sen. Dann, wenn sich die Fragen nach dem Warum stellen. Wenn das Leben keinen Sinn mehr zu haben scheint. «Genau dann stehe ich auf und gehe in die Stube, um zu weinen. Damit meine Familie nicht sieht, wie mich die Stärke verlässt und die Ohnmacht für einen Moment das Zepter übernimmt.»

Die Krankenschwester betritt den Raum. Der Infusionsbeutel ist leer. Blutdruck und Puls okay. Körpertemperatur ebenfalls. Jetzt noch die Sachen packen und nach Hause, bevor die grosse Müdigkeit kommt. Das ist immer so nach der Infusion. Los geht’s. Die freiwillige Fahrerin des Frauenvereins von Port wartet schon.