Männer und die neue Muskelsucht

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Der Mann steht unter Druck, ganz besonders in der zweiten Lebenshälfte. Erfolg, Lebenserfahrung und selbst Weisheit und Güte reichen nicht mehr. Heute braucht es Muskeln, aber nicht etwa um zu schuften, sondern um Eindruck zu schinden.

Noch bis weit in das 20. Jahrhundert wurde die Muskulatur für die körperliche Arbeit und zum Lebenserwerb gebraucht. Heute ist sie Ausdruck der Selbstoptimierung und Symbol schlechthin für männliche Identität, der vermeintliche Schlüssel zum Erfolg im Beruf und bei den Frauen, verbunden mit der grossen Hoffnung, sich im Alter noch mal zu verjüngen.

Was führt die Männer in die Fitness- und EMS-Studios, wo es nicht mehr um Sport geht, sondern nur noch darum, mit Elektrostimulation die Muskelmasse mit möglichst geringem Aufwand zu vergrössern? Was treibt die Männer massenhaft in die Hände von Personaltrainern und Fitnessgurus, die ihnen akribische Pläne für tägliches Workout und eiweissreiche Ernährung verordnen? Was veranlasst sie um Himmels Willen, sich illegal Wachstumshormon, Testosteron, Kortison, ja selbst Insulin verabreichen zu lassen, um die Fettverbrennung und den Muskelzuwachs anzuheizen, wo man genau weiss, dass die Folgen katastrophal sind und bis zu Herzkrankheiten, Diabetes und Impotenz reichen?

Körperkult reicht als Erklärung nicht

Der allgegenwärtige Körperkult reicht als Erklärung nicht aus. Der Muskelwahn des modernen Mannes ist ein Kollateralschaden der Emanzipation. Er ist verunsichert, weiss nicht mehr, was mit ihm geschieht und was von ihm verlangt wird. Er versteht nicht mehr, was es heute heisst, ein Mann zu sein. Soll er nun verständnisvoll oder machohaft sein, liebevoll oder hart? Was liegt näher, als auf etablierte Identitätsanker zurückzugreifen? Der Körper als letzte Bastion, die von der Frau nicht eingenommen werden kann.

Essstörung der Männer

Ein bepackter Körper gegen den bröckelnde Selbstwert kann schnell zur Sucht werden. Muskelwachstum wird zur fixen Idee, Fitness zum Zwang. Muskelsucht ist die Essstörung der Männer. Wie bei einer Magersucht nehmen sie ihren Körper verzerrt wahr. Sie pumpen weiter und schaufeln Proteine. Kritisch wird es, wenn Training und Ernährung den Alltag komplett bestimmen, soziale Kontakte vernachlässigt werden und Entzugserscheinungen wie depressive Verstimmungen, Angstzustände oder Unruhe auftreten.

Frauen bevorzugen normalen Körperbau

Dann heisst es in jedem Fall, den Betroffenen anzusprechen und ihm Unterstützung anzubieten. Ihn dazu ermutigen, wieder einen entspannten, spontanen, genussvollen Zugang zum Sport und zum Essen zu finden. Er soll Sport machen können, weil er seinen Körper liebt und nicht, weil er ihn hasst. Er darf ruhig hören, dass Frauen gemäss Untersuchungen in USA und in Europa Männer mit einem normalen Körperbau bevorzugen und Muskelprotze abschreckend finden. Und er muss sich selber klarmachen, dass es klug ist, sein Social-Media-Verhalten zu überdenken, das ihn bis anhin mit übermächtigen Bildern so unter Zwang setzte. Der Abschied von Fitness-Influencern und Lifestyle-Plattformen kann nicht nur seinen Leidensdruck abbauen, sondern ihm eine selbstbestimmte, vielschichtige Männlichkeit schenken.

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