Ist das Alter Abschied oder Neuanfang?

Urheber: Катерина Євтехова Alter Abschied Neuanfang Bild AdobeStock Urheber Катерина Євтехова

Lassen Sie es mich gleich vorwegnehmen: Alter ist Abschied, und Alter ist Neuanfang. Und zwar jeden Tag. Wer das nicht begreift und täglich lebt, wird nicht glücklich alt. Und noch etwas möchte ich gleich zu Beginn klarstellen: Alt werden tut weh, körperlich und seelisch. Die Frage ist nur, wie Sie mit diesem Schmerz umgehen. Und alt werden ist auch schön. Man muss die Schönheit des Alters nur sehen wollen und nicht verstecken. Alt werden kann sogar Spass machen.

Frei von irgendwelchen Zwängen und Fremdbestimmungen endlich einmal sich längst gehegte Wünsche erfüllen und ein bisschen verrückt sein – das können die meisten von uns nur im Alter. In vielen Kulturen wird das Alter besonders respektiert. In manchen wie dem Judentum gilt Altsein sogar als ein fast idealer Lebenszustand. Ein langes und erfülltes Leben ist ein Geschenk Gottes. Glücklich ist, wer alt und lebenssatt stirbt.

Ein Bote der Götter

In den Büchern Mose wird ein langes Leben demjenigen versprochen, der Vater und Mutter ehrt und der keine falschen Gewichte verwendet. Viele der in der westlichen Welt verbreiteten Auffassungen über das Alter haben ihren Ursprung im Alten Testament. Dort wird das Alter mit Stärken wie Klugheit, Erfahrung, Einsicht und Weisheit in Verbindung gebracht, aber auch mit Schwächen wie nachlassender Liebesfähigkeit, Sinnesleistung und Gesundheit. Im Buddhismus, der das Leben beziehungsweise den Kreislauf der Wiedergeburten als Leiden konzipiert, wird auch das Altern als Leiden begriffen; es erscheint damit in einer Reihe mit dem Leiden bei der Geburt, der Krankheit und des Todes. Ursache des Leidens sind die drei Geistesgifte Gier, Hass und Verblendung beziehungsweise das Festhalten am Vergänglichen. Damit das Leiden erlischt, müssen diese Übel durch den Edlen Achtfachen Pfad überwunden werden. Das Alter gilt im Buddhismus – ebenso wie Krankheit und Tod – als Götterbote, nämlich als eine Tatsache, die den Menschen zu ernstem Nachdenken mahnt.

Der Tod als Erlösung

Der römische Schriftsteller und Philosoph Marcus Tullius Cicero wies er darauf hin, dass besonders diejenigen das Alter als beschwerlich empfinden, die auch in früheren Lebensphasen schon unglücklich gewesen seien. Cicero plädiert für ein aktives Alter, das seine Ressourcen – Geisteskräfte, Vernunft, Klugheit, Weisheit, Erinnerung, Eifer, Fleiss – bewahrt und nutzt, und Sinn durch die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft findet. Dass die Gelüste und Begierden der Jugend im Alter nachlassen, hält Cicero geradezu für einen Segen, denn aus diesen entstehe ja nur Unheil. Selbst die Nähe des Alters zum Tode sei nicht wirklich ein Unglück, denn alles in der Natur sei nun einmal vergänglich, und egal ob man an ein Jenseits glaube: einen Zustand, in dem man elend sei, bringe der Tod gewiss nicht.

Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson hat in seinem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung das Alter als einen Lebensabschnitt beschrieben, in dem das Seelenleben sich im Spannungsfeld zwischen den beiden Polen Integrität und Verzweiflung vollziehe. Der Grundkonflikt des Alters bestehe in der Herausforderung, sowohl das Leben, auf das man zurückblickt, als auch den Tod, dem man entgegensieht, anzunehmen.

Die Lektionen 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 und 9 von „Besser alt werden“ finden Sie hier:

Lektion 2
Lektion 3
Lektion 4
Lektion 5
Lektion 6
Lektion 7
Lektion 8
Lektion 9